Euregio-Schüler-Literaturpreis 2018

Diese Woche gab es tolle Neuigkeiten, und wieso der Preis etwas wirklich Besonderes ist, versteht man bei diesem Link. 

 

Ich war bei der Veranstaltung in Maastricht begeistert von den Anmerkungen und Fragen der Schüler aus drei Ländern. Was für eine schöne Auszeichnung. Sehr bedanken möchte ich mich auch bei meinen Übersetzerinnen, deren Arbeit und Leidenschaft das Ganze möglich gemacht hat und die den Preis genauso verdienen: JULIETTE AUBERT für „La Fin de la Solitude“ und GERDA BAARDMAN für „Het Einde van de Eenzamheid“. Sowie bei Uitgeverij J.M. Meulenhoff​ und Slatkine & Compagnie​ dafür, dass sie mich unterstützt und meine Bücher in den Niederlanden bzw. in Frankreich und Belgien herausgebracht haben.


Nachtrag: Am Dienstag, den 15. Mai erfolgte dann die Preisverleihung in Lüttich, ein großartiger Abend, und das nicht nur wegen der vielen tollen Begegnungen.

Foto: Sylvie Schenk, Juliette Aubert, Icke, Oliver Vogt. Weitere Bilder der Veranstaltung hier.

Bevor ich zu meiner Rede komme, jedoch erstmal die von Sylvie Schenk, Autorin des wunderbaren Buchs Schnell, dein Leben und Mitorganisatorin dieses Preises. Da ihre Worte mich sehr begeistert haben, möchte ich sie hier nicht vorenthalten:


“Die Verabredung

Liebe Schüler, liebe Lehrer, liebe Verleger und Sponsoren, liebe Freunde,

Sie haben es eben gehört, der Euregio-Schüler-Literaturpreis wie auch das Projekt Die Euregio liest, sind Ereignisse, die auf dem Prinzip der Begegnung beruhen, einer internationalen Begegnung zwischen Autoren, Übersetzern, Schülern und weiteren Lesern. Im Herz dieser Begegnungen befindet sich der Roman, das Date eines Schriftstellers mit seinen Lesern. Eine Verabredung, die, wie man hört, leider immer seltener stattfindet. Gewiss kann ein Roman allein die Welt nicht verändern, aber er hilft uns, sie besser zu beleuchten und zu erkennen. Jeder Leser, der ein Buch in den Händen hält, trägt eine kleine Fackel, die ein Stück seines Weges erhellt. Es gab 2015 in Rumänien eine schöne Initiative: Jeder Fahrgast, der in der Bahn, U-Bahn oder Bus in einer Buch las, konnte umsonst fahren. Ich wünsche, es gäbe auch in der Euregio  eine solche Initiative, man würde, Schüler oder Erwachsene in den öffentlichen Fahrmitteln als lesende Komplizen der Euregio-Projekte daran erkennen, dass sie in den Händen ein Buch von Wells, Bergmann, Faye, Wagendorp, Pirotte oder Terrin hielten.

Das wäre das Ende der Einsamkeit.

Dies führt uns zum Punkt A der literarischen Begegnung: Was treibt einen jungen Mann namens Benedict an, der nach dem Abitur und dem Internat, diesem schulischen Exil ,erklärt, studieren wolle er nicht, nein, was er möchte, sei nur dies: Eine etwas subversive Freiheit genießen, die Schreibfreiheit, und auch, wenn er einige Jahre am Hungertuch nagen werde, wolle er einen Roman schreiben. Schon klappt er seinen Laptop auf und macht sich ans Werk. Was passiert in diesem Kopf, in diesem Herz, woher kommt das furiose Schreibbedürfnis  des  jungen Nachwuchsschriftstellers?  Bei Benedict Wells könnte man einen Familieneinfluss, eine Art Literaturgen herbeifantasieren, nun beobachten wir die selbe Leidenschaft bei anderen Autoren, unter anderen bei Gael Faye, der nach Benedict die größte Zahl Stimmen bekommen hat. Als Gael 13 Jahre alt Burundi verlässt, das Land seiner Kindheit, ein – wie auch Rwanda – in Feuer und Blut ertränktes Land, und sich isoliert in der tristen Banlieue von Paris wiederfindet, schreibt er. Tagebücher, Gedichte, Raptexte, und später seinen ersten und wunderbaren Roman Kleines Land. Der dritte Autor Ihrer Wahl, Emanuel Bergmann hat als heranwachsender Deutschland verlassen, ein Land, das im Krieg einen Teil seiner jüdischen Familie niedergemetzelt hatte, und führt mit seiner Mutter sein Leben in den vereinigten Staaten weiter.. Auch er erzählt uns von der schwierigen Kindheit seiner zwei Romanhelden, von einer Flucht nach vorn, von einem Exil. Die Bücher, die uns am meistens berühren, sind die, die aus einer tiefen Wunde entspringen und die sogar der noch unerfahrener Leser als authentisch empfindet. In Ihren drei Lieblingsbüchern steht das Exil im Mittelpunkt, der Verlust der Heimat oder des Elternhauses, der Verlust des grünen Paradieses der Kindheit, den Baudelaire so besingt:

Das grüne Paradies der kindischen Liebe (…)

Der unschuldige Garten des verstohlenen Glücks ·

Ob er schon weit im indischen Meer verschwimme? (Moesta et errabunda)

Die Bücher sind der indische Ozean, in dem wir und die Autoren eintauchen. Auch im schönen Kriegsroman von Emmanuelle Pirotte und zum Teil auch bei Ventoux von Bert Wagendorp haben wir dieselben Themen gefunden. Einsamkeit, Krieg, Verlust der Kindheit, es sind mythische Themen, wenn wir den Mythos als eine Fabel sehen, in welcher ein Held seine ganze Energie gegen die Unbill des Lebens mobilisiert. Der Däumling will dem Menschenfresser entkommen und seine Brüder retten. Wir alle wollen dem Menschenfresser entkommen und die besten von uns wollen ihren Brüdern  helfen. Gibt es, liebe Schüler, ein älteres und ein aktuelleres Thema?

Klar, die Arbeit am Stil, am Aufbau eines Textes, die Spannung oder die Originalität eines Blinkwinkels, sind wichtige Kriterien für das Gelingen eines Romans, sie reichen aber nicht aus für unseren Durst nach Symbolen und unsere Lust nach Wahrheit. Um gehört zu werden, muss der Roman wie bei Wells eine tiefe Emotion in uns wecken,  eine einzigartige und brüderliche Stimme haben, die man zum ersten Mal hört und einen vibrieren lässt. Ein zweites, wesentliches Kriterium wird von Sartre so definiert: Die Welt schreibt er,  ist von einem Schleier aus vorfertigen Interpretationen, irrführenden Bildern behängt, die Funktion des Romans ist es, seit dem Anfang der modernen Zeiten diesen Schleier zu zerreißen, um kleine Splitter von Wahrheiten aufzuzeigen, die uns allein die echten Romanciers aufzeigen können. Das Echte sogar in der Erfindung aufzuzeigen, Benedikt Wells und Gaël Faye können das. Und ebenfalls, meiner Meinung nach, Peter Terrin mit dem Roman Monte Carlo, wo ein armer Mechaniker um seine unerreichbare Liebe kämpft und vergeblich versucht, die falschen Darstellungen der Welt zu demaskieren.

Kommen wir zum Punkt B des Austauschs Schriftsteller-Leser. Ohne den Leser existiert der Roman nicht. Er ist eine Hand, die nichts zu fassen bekommt. Leider sind die Leser heute im Schwinden. Ich will hier nicht die Kassandra spielen und begnüge mich damit, Heinrich Riethmüller zu zitieren, den Vorsitzender des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, der neulich in Leipzig erklärte, dass der Buchmarkt zwischen 2013 und 2017 6, 5 Millionen Kunden verloren hat. Auch in Belgien und in den Niederlanden, wahrscheinlich auf der ganzen Erde, schrumpft die Zahl der Leser. Befragt man die Leser und Ex-Leser, beklagen sie den Zeitmangel: Smartphone, Tabletten und weitere Bildschirmen fressen ihnen die Freizeit, sobald sie den beruflichen  Computern  entwichen sind. Ich will jetzt kein Lied gegen Internet anstimmen, es steht längst fest, dass wir, die wir stets präsent in der Welt der anderen sein wollen, uns selbst gegenüber immer abwesender sind.  Im Buch aber finden Sie sich selbst wieder und können an der Hand die vielen Däumlingen führen, denen ihr so ähnlich seid.

Dieser Preis, den wir seit siebzehn Jahren hoch leben lassen, wäre nicht möglich ohne die Autoren und ihre Übersetzerinnen, diese Heldinnen des linguistischen Austausches, er wäre nicht zu realisieren ohne die Sponsoren ,die ihn finanzieren und bei denen wir uns nie genug bedanken werden, ohne die Lehrer, – einige Schulen sind schon seit siebzehn Jahren dabei –  die immer noch nicht müde sind, Sie, liebe Schüler, zu lesen zu ermutigen, und natürlich ohne Sie, junge Leser,  die ihr euch jedes Jahr unserer Sympathie und sogar unserer Bewunderung erfreut. Sie sind nämlich Helden gegen die Zeitströmung, also jetzt schon starke Persönlichkeiten, und,  ja lieber Schüler, Sie sind die Zukunft des Buches.

Schüler aus Aachen, Ans, Brunssum, Düren, Euskirchen, Eupen, Eschweiler, Gemmenich, Heerlen, , Herzogenrath, Hoensbroek, Hückelhoven, La Calamine, Landgraaf, Langerwehe, Liège, Maastricht,  Meersen, Neerpelt, Schleiden, Tongeren, Übach Palenberg, Verviers,  Welkenraedt, Visé, wir gratulieren Sie für Ihre Wahl und freuen uns auf Ihre Laudationes des Romans, „Vom Ende der Einsamkeit“ von Benedict Wells.”

Sylvie Schenk


Und hier wäre noch meine Rede. Ich weiß nicht, ob das wirklich meine Disziplin ist, also habe ich einfach versucht, all das zu sagen, was ich als Schüler selbst gern gehört hätte, und dabei auch einen Text für das ZEIT-Magazin aufgegriffen.

“Bon soir, Goede Avend, Guten Abend!

Zunächst mal möchte ich mich sehr für diese Auszeichnung bedanken. Bei den Organisatoren wie Sylvie Schenk und Oliver Vogt, bei den teilnehmenden Schulklassen, Lehrern und allen, die mitgeholfen haben, sowie bei meinen Verlagen Diogenes, Meulenhoff und Slatkine.

Dieser Preis bedeutet mir aus zwei Gründen sehr viel. Zum einen, weil er von der unbestechlichsten Jury kommt, die ich mir nur vorstellen kann: Schülerinnen und Schülern. Schon bei der Lesung in Maastricht war ich begeistert von den klugen, aber auch kritischen Fragen und von dem Enthusiasmus, mit dem die sechs nominierten Bücher gelesen und besprochen wurden. Für diese Leidenschaft und das tolle Feedback bin ich sehr dankbar.

Zum anderen ist der Preis für mich aber auch etwas Besonderes, weil er europäisch ist und drei Sprachen umfasst. Das Spannende, aber auch Knifflige an der Literatur ist ja, dass sie einer Übersetzung bedarf – im Gegensatz zu etwa Musik und vielen anderen künstlerischen Ausdrucksformen, die von Anfang an universell zugänglich sind. Bücher dagegen haben Grenzen. Überwunden werden diese von Übersetzerinnen und Übersetzern, wie in meinem Fall Juliette Aubert und Gerda Baardman, für deren wunderbare Arbeit ich mich ebenfalls sehr bedanken möchte. Dieser Preis geht genauso an sie.

Denn das ist für mich das Schöne an Kunst: Sie überwindet im besten Fall Grenzen, sie fördert Empathie, Toleranz und das Miteinander von Menschen, von verschiedenen Ländern und Kulturen, und gerade in Zeiten wie diesen – geprägt von Populismus und wiederaufkommendem Nationalismus – ist das etwas, das wir bewahren und verteidigen müssen. Dass diesem Preis die europäische Idee zugrunde liegt, freut mich deshalb sehr.

In Maastricht wurde ich von den Schülerinnen und Schülern auch gefragt, wie es für mich gewesen sei, nach der Schule nicht zu studieren, sondern erstmal meinem Traum vom Schreiben hinterherzujagen, vor allem, als es jahrelang nur Absagen gab. Ich hatte damals ehrlich gesagt oft Zweifel, und es gab viele Leute, auch Verwandte und Freunde, die mir diesen Traum ausreden wollten. Die sagten: Lass es doch, mach erstmal etwas Sicheres. Das war gutgemeint, aber ich möchte an dieser Stelle den teilnehmenden Schulklassen etwas anderes sagen. Ich möchte sagen: Seid mutig, und macht verdammt noch mal, was ihr wollt!

Nutzt die Zeit nach der Schule, und lasst euch nicht von anderen von euren Zielen und Träumen abbringen. Reist um die Welt, macht Musik oder was ihr sonst vorhabt, erlebt Abenteuer, schreibt, malt, filmt, experimentiert, entwickelt Ideen und setzt sie um, lasst euch jahrelang treiben oder arbeitet und studiert, was immer ihr lieber möchtet. Tut einfach, was ihr euch vorgenommen habt, und tut es am besten jetzt, denn ihr seid nach der Schule so frei wie danach vermutlich nie wieder. Oder anders gesagt: relaxed, ihr habt Zeit! Niemand muss mit neunzehn schon über sein ganzes Leben bestimmen und seinem fünfzigjährigen Ich mit einer meist auch noch Zufallsentscheidung vorschreiben, welchen Beruf es ausüben und in welchem Büro es sitzen soll.

Und ich weiß, das alles sagt sich leicht. Ich erinnere mich noch gut an den Druck, den man nach der Schule spürt. Es scheint unendlich wichtig, was man mit neunzehn oder zwanzig macht, dass man etwa keine Lücken im Lebenslauf hat, und immer einen Plan in der Tasche. Dass man Eltern und Freunde beruhigen kann, aber auch sich selbst. Um jeden einzelnen Monat Freiheit muss man kämpfen. Als es bei mir jahrelang nicht lief, wollte ich irgendwann sogar auswandern, weil ich mir wie ein Versager vorkam und den Druck kaum mehr aushielt. Aber schon beim zehnjährigen Klassentreffen interessierte sich plötzlich niemand mehr dafür, was man damals gemacht hatte. Und wenn man irgendwann später dasitzt und sich denkt: Wieso habe ich eigentlich nicht zumindest versucht, mir meinen Traum zu erfüllen, dann sagen unter Garantie die gleichen Leute, die es einem damals ausgeredet hatten: „Ja, warum hast du nicht?“

Jeder von euch ist einzigartig, jeden gibt es nur einmal. Nutzt eure Zeit, nutzt eure Freiheit, und vor allem: seid mutig!”