Archiv, das Interview stammt vom 24. Februar 2016.
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»Für mich persönlich das wichtigste Buch, das ich bisher geschrieben habe.«
Fast fünf Jahre mussten seine Leser auf Benedict Wells neuen Roman warten, heute erscheint er. Vom Ende der Einsamkeit ist ein berührendes Buch vom Überwinden von Verlust und Einsamkeit geworden und vor allem auch: eine große Liebesgeschichte. Wir trafen den 31-jährigen Autor, der auch schon als »Ausnahmetalent in der jungen deutschen Literatur« bezeichnet wurde (ZDF), zum Gespräch.
Jules und seine Geschwister Marty und Liz sind grundverschieden, doch ein tragisches Ereignis prägt alle drei: Behütet aufgewachsen, haben sie als Kinder ihre Eltern durch einen Unfall verloren. Obwohl sie auf dasselbe Internat kommen, geht jeder seinen eigenen Weg, sie werden sich fremd und verlieren einander aus den Augen. Vor allem der einst so selbstbewusste Jules zieht sich immer mehr in seine Traumwelten zurück. Nur mit der geheimnisvollen Alva schließt er Freundschaft, doch erst Jahre später wird er begreifen, was sie ihm bedeutet – und was sie ihm immer verschwiegen hat.
Benedict Wells, es gibt Leserstimmen, die sagen, dass sie dieser Roman zum Weinen gebracht hat. Was sagen Sie dazu?
Auch wenn ich es vielleicht nicht zugeben sollte: Es freut mich natürlich. Ich wollte etwas schreiben, was den Leser berühren kann, aber auch etwas, was ihm am Ende Hoffnung gibt. Falls das bei der einen oder dem anderen geklappt hat, macht mich das sehr glücklich. Für das Ende von Fast genial wollten mir damals viele – ich zitiere – »eine reinhauen« oder mich gleich erwürgen, da finde ich die Reaktionen jetzt natürlich ein bisschen schöner.
Wie sind Sie auf dieses große und ernste Thema gekommen?
Das entwickelte sich beim Schreiben. Als ich mit dem Roman begann, war ich noch vierundzwanzig und dachte, ich würde das Thema Tod wie bei den bisherigen Büchern ironisch brechen. Doch je älter ich wurde und je weiter ich in der Geschichte vorankam, desto stärker wurde mir bewusst, dass das nicht mehr gehen würde. Und dass ich es auch nicht mehr wollte. Auch wenn ich keine Waise bin und ein sehr liebevolles Verhältnis zu meinen Eltern habe, sind die Themen des Buchs – Veränderung, Einsamkeit und Verlust – meine Themen, nur eben anders erlebt. Mich hat zudem immer fasziniert, wie fragil ein Lebensweg ist, wenn an bestimmten Momenten nur ein paar Rädchen nicht ineinandergreifen. Wie manche Entscheidungen und Ereignisse dafür sorgen können, dass man ein völlig anderer Mensch wird, als man gedacht hat, mit anderen Empfindungen, Träumen und Eigenschaften. Und ob und wie sich diese Entwicklung umkehren lässt.
Wie lange haben Sie an diesem Roman gearbeitet?
Am Ende waren es sieben Jahre. Die Idee kam mir irgendwann 2008, und so schrieb ich lange abwechselnd an Fast genial und Vom Ende der Einsamkeit, wobei Letzteres deutlich mehr Zeit in Anspruch nahm. Die Handlung geht über fünfunddreißig Jahre, ich musste eine völlig andere Sprache verwenden als bisher, als Schriftsteller quasi alles neu lernen. Das habe ich aber auch gesucht, ich wollte mich verändern. Anfangs hatte der Roman ca. achthundert Seiten, doch mir war wichtig, dass die Geschichte dicht erzählt ist. Ich kürzte dann nach und nach auf dreihundertfünfzig Seiten und habe dauernd überlegt, wo man am besten die Schnitte setzt. Was ich erzählen muss und welche Lücken ich lieber lasse, damit die Leser sie selbst füllen. Ich wollte mir diesmal einfach so viel Zeit nehmen wie nötig, und alles tun, was ich konnte.
Das hat sich gelohnt. Wie kamen Sie auf den Titel Ihres Romans?
Dankeschön. Und zum einen glaube ich, dass Einsamkeit etwas ist, was viele umtreibt. Man spricht nicht gern darüber, vielleicht nicht mal vor sich selbst, aber ich glaube, dieses Gefühl wird von vielen empfunden, zumindest in manchen Momenten. Vor Jahren sprach mich schließlich ein Journalist darauf an, dass am Ende meiner bisherigen Romane der Protagonist immer einsam ist. Ich war im ersten Moment völlig baff, das war mir überhaupt nicht bewusst gewesen. Und dann sagte ich zu ihm: »Ja, aber bei dem Buch, an dem ich gerade schreibe, wird es anders sein. Da geht es um das Überwinden von Einsamkeit.« So kam ich auf den Titel.
Foto: © Roger Eberhard
Stimmt es, dass Sie dreizehn Jahre in Heimen bzw. staatlichen Internaten verbracht haben? Das ist ja ein ziemlicher Rekord!
Das wurde mir erst in den letzten Jahren richtig bewusst. Ich hatte ja immer Mitschüler um mich herum, erst später habe ich begriffen, dass die meisten von ihnen nur ein paar Jahre im Heim waren, ich dagegen die ganze Strecke von sechs bis neunzehn. Ich glaube jedoch, so war es einfacher, denn ich kannte ja nichts anderes als das Internat und konnte nichts vermissen. Viel schwieriger ist es zum Beispiel für die Geschwister im Roman, die teils schon Teenager sind, aus ihrem alten Leben herausgerissen werden und Freunde und ihr Zuhause zurücklassen müssen.
Wie kamen Sie denn so früh ins Internat? Was bedeutet diese Zeit für Sie, im Guten wie im Schlechten?
Ach, es ging eben damals nicht anders. Als ich ein Kind war, wurde ein Elternteil krank, der andere arbeitete selbständig, es gab finanzielle Probleme, da lag ein Heim einfach nahe. Deshalb war ich aber auch nie sauer auf meine Eltern, weil ich ja wusste, warum ich da war. In guten Momenten war das Internat dann wie Hogwarts, nur ohne Zauberei – auch wenn es gerade zu Beginn sicher mal schwierigere Phasen gab. Auf einem Internat entsteht jedoch bei aller Härte auch eine wahnsinnige Vertrautheit, man sieht sich jahrelang Tag und Nacht. Wenn wir als Kinder zu sechst im Schlafsaal lagen und einer vor Heimweh weinte, bekamen wir das genauso mit, wie wenn sich später einer verliebte, glücklich war oder Stress zu Hause hatte. Wir wussten alles voneinander, eine unglaubliche Dichte an Erlebnissen, Emotionen und Charakteren, die mich als Autor bis heute prägt. Die Zeit dort war aber auch sonst sehr wichtig für mich, ich habe mich nach der Schule unabhängiger und freier gefühlt, vielleicht auch wütender. Ich habe einfach einen großen Willen und Tatendrang gespürt, hinauszugehen und etwas zu machen. Und gerade die letzten Jahre im Heim waren mit die schönsten meines Lebens. Mit seinen besten Freunden zusammenzuwohnen, nachts Unsinn zu machen oder bis zum Morgen zu reden, diese Zeit bedeutet mir sehr viel.
Es fällt auf, dass Sie nur sehr wenig Interviews geben und alle Talkshow-Anfragen ablehnen. Gibt es dafür einen Grund?
Ich stehe einfach nicht so gern in der Öffentlichkeit. Und vor allem möchte ich die Bücher nicht über mein Privatleben verkaufen, die Geschichten sollen für sich selbst sprechen.
Gibt es sonst noch Seiten am Schriftsteller Benedict Wells, die wir nicht kennen? Womit werden Sie uns noch überraschen?
Vom Ende der Einsamkeit ist für mich persönlich das wichtigste Buch, das ich bisher geschrieben habe. Jetzt, wo ich damit fertig bin, möchte ich etwas Neues ausprobieren und als Autor einfach Spaß haben. Und so kann es sein, dass die Richtung, die ich nun einschlage, überraschend kommt. Denn sosehr ich Schriftsteller wie Ishiguro, Fitzgerald und Irving liebe, so sehr liebe ich auch die Harry Potter-Reihe und Krabat, die Jugendromane von John Green und Filme wie Das Imperium schlägt zurück. Ich habe ein paar Buchideen im Kopf und freue mich wie ein Kind darauf, sie endlich niederzuschreiben.