Diesen Monat wurde Hard Land zum ersten Mal als Theaterstück aufgeführt. Wenn eine Geschichte auf die Bühne kommt, ist man als Autor vor allem eines: nervös. Wenige Tage vor der Premiere war ich zudem in London gewesen, um Thomas Ostermeiers internationale Adaption von Tschechows The Seagull anzusehen, mit u.a. Cate Blanchett glänzend besetzt. Die Messlatte dessen, was ein Theaterstück leisten kann, war kurz zuvor also noch mal sehr hochgelegt worden, auch das trug zu meiner Aufregung bei.
Hinzu kam, dass ich keine Ahnung hatte, was die Regisseurin Katja Langenbach und der Dramaturg Martin Wigger aus meinem Buch gemacht hatten. Wir hatten vor Ewigkeiten ein sehr gutes Gespräch gehabt, in dem ich darlegte, was mir wichtig war (u.a. meine Hoffnung, dass das Thema Trauer den nötigen Raum erhält), danach wollte ich mich aber bewusst nicht mehr einmischen und nichts wissen. Denn in der Kunst glaube ich wirklich: Lieber eine überzeugte Vision, die in sich stimmig ist und mit aller Leidenschaft umgesetzt wird und dementsprechend triumphiert oder scheitert, als zu viele Kompromisse oder eine unentschlossene Nummer Sicher aus verschiedenen Ideen, Stilen und Vorstellungen. Schließlich dufte ich Hard Land ja schon mal so erzählen, wie ich es wollte – und zwar als Roman.
Nun waren andere dran.
Umso gespannter war ich auf die Premiere. Schon der Ort war für mich speziell: Zum einen ist Luzern meine Schweizer Heimat, meine Mutter kam aus der Gegend und ich war in den Ferien als Kind oft dort. Zum anderen beendete ich die Arbeit an Hard Land ausgerechnet in der Nähe von Luzern und entließ den Roman in einer Pension im Eigenthal in die Welt. Die Geschichte kam nun also in gewandelter Form zurück nach Hause.
Beim Betreten des Theaters fiel mir sofort das Bühnenbild von Hella Prokoph auf. Wie bei The Seagull in London war es minimalistisch, steckte darin aber voller Möglichkeiten. Kein Kino, kein Diner, keine erwartbaren Kulissen, einfach nur die Weite Missouris, ein Himmel und einige Hügel. Es ist unglaublich, welche Gefühlswelten dort entstehen konnten und auch entstanden, bevor sich die Bühne in der zweiten Hälfte noch einmal sehr veränderte. Ich habe es geliebt.

Von links nach rechts: Kirstie, Cameron, Sam, Brandon. (Copyright für dieses und alle anderen Fotos: Ingo Hoehn)
Das Stück selbst begann mit dem ersten Satz des Romans: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“
Und dann ging es los.
Konzentriert und überbewusst schaute ich den Anfang – doch schon nach wenigen Minuten vergaß ich erstmals, dass ich in einer fernen, früheren Welt einmal der Autor dieser Geschichte gewesen war. Und auch später wurde ich nur ganz selten daran erinnert. Etwa wenn Cameron spekulierte, was wäre, wenn Menschen wie Katzen schnurren würden, wenn sie sich wohl fühlen, und wie peinlich das bei Jugendlichen in einer Date-Situation sein könne; da musste ich dann doch kurz mit einem Lächeln daran denken, wie ich solchen Quatsch mal vor Ewigkeiten nachts am Computer getippt hatte – und nun sprachen Menschen tatsächlich diese Sätze.
Doch mit zunehmender Dauer verlor ich mich immer mehr im Stück. Das hatte verschiedene Gründe, etwa das großartige Zusammenspiel von Licht (Petri Tuhkanen), Bühnenbild und Musik (Mario Marchisella), die tollen 80s-Kostüme (Julia Ströder), die fulminante Inszenierung, die nicht eine Länge zuließ, die Dramaturgie, die wirklich die Seele des Romans eingefangen hatte, die vielen cleveren Ideen, wie etwa Sams Schwester Jean die Geschichte erzählen zu lassen.
Und natürlich lag es auch an den Schauspieler:innen. Wie mitreißend und energetisch waren Bastian Inglin (Sam), Carina Thurner (Kirstie), Moïse de Quay (Cameron), Colin Vemba (Hightower), Annina Hunziker (Jean), Zoe Hutmacher (Annie) und Rüdiger Hauffe (Joseph) in ihren Rollen! Ich möchte dem Luzerner Cast von Hard Land meinen tiefen Dank aussprechen, und, sollte das hier jemand per Zufall lesen, auch mal kurz ins Direkte wechseln: Ihr könnt euch nicht vorstellen, was es für den Autor einer Geschichte bedeutet, wenn die Figuren von derart wunderbaren Schauspieler:innen interpretiert und beseelt werden, wie viel Freude ihr mir und anderen Zuschauenden mit eurem Spiel gemacht habt, wie stark ihr uns berührt habt. Und wie sehr man spürte, wie viel Spaß ihr hattet.

Die Szenen mit Sam und seinem Vater haben mich unfassbar berührt. Es ist das eine, so etwas für sich selbst am Laptop zu schreiben, das andere, auf der Bühne mit echten Menschen zu sehen, wie Männer auf diese Weise über ihre Gefühle reden.
Das Stück hatte in vielen Momenten eine beglückende Leichtigkeit, aber auch immer wieder eine für die Handlung wichtige Schwere und Härte. Zur Pause weinten einige Menschen, wie ich verstohlen bemerkte, während ich selbst schnell hinausflüchtete, damit niemand meine eigenen Tränen sah. In der zweiten Hälfte war es mir dann egal, ich weinte, ich lachte, wie eigentlich alle um mich herum. Es gab unglaublich dramatische und rauschhafte Szenen, gerade nach dem Tod der Mutter, bis hin zu Konzerteinlagen. Das Ende wiederum war anders als im Buch und gerade deshalb gelungen. Und was dann folgte, waren nicht enden wollende, minutenlange Standing Ovations für die Crew und die Darstellenden.
Ich weiß, ich bin als Autor subjektiv, aber angesichts der Begeisterung der Menschen um mich herum traue ich mich es auszuspechen: An diesem Abend wurde in Luzern etwas Wundervolles verbracht, das zum Besten gehört, was zumindest ich seit Langem auf einer Bühne sah. Das Stück hätte nie so gut sein müssen, und es wäre trotzdem völlig okay gewesen. Aber was hier geschaffen wurde, ging darüber hinaus; es war etwas Besonderes.
In Ostermeiers – von Duncan MacMillan adaptierter – Londoner Version von The Seagull gibt es eine neu hinzugedichtete Stelle, in der der knapp 40jährige Schriftsteller Alexander Trigorin sich plötzlich direkt ans Publikum wendet und auf resignierte, fast zynische Weise die Relevanz von Kunst in Frage stellt. Was hat das alles noch für einen Sinn, fragt er uns, in einer Welt, die ohnehin immer mehr zugrunde geht und vor unseren Augen zu zerfallen scheint? Einer Welt, die ganz andere Fragen und Sorgen hat? Im Stück antwortet ihm die junge Nina, dass doch gerade seine eigenen Werke sie berührt hätten und es in der Kunst auch immer darum gehe.
Ja, es gibt den Blickwinkel für das große Ganze, diesen kühlen Mastershot aus der Ferne, in dem menschliche Kunst angesichts der Krisen der Welt klein und bedeutungslos wird. Aber es gibt auch den Close-Up, den Zoom auf das Nahe, die Berührung, die uns daran erinnert, was es überhaupt heißt, in dieser schwierigen Welt ein Mensch zu sein – und wieso wir uns gerade deshalb den aktuellen Krisen entgegenstellen und mit allem Trotz hoffnungsvoll bleiben sollten.
Den Spagat aus beidem hat The Seagull in London hervorragend geschafft. Was diese Nähe dagegen bedeuten und auslösen kann, das wurde mir – und ich hoffe, ich darf das als natürlich maximal befangener Autor der Vorlage sagen – noch mal so richtig bei der Theater-Premiere in Luzern bewusst.

Sam und Kirsite in der Fabrik, Jean schaut zu: “Es sollte echt ein Wort für dieses Gefühl geben“, sagte sie. „So was wie Euphancholie. Einerseits zerreißt’s dich vor Glück, gleichzeitig bist du schwermütig, weil du weißt, dass du was verlierst oder dieser Augenblick mal vorbei sein wird … Dass alles mal vorbei sein wird.”
Seit Jahren versuche ich zunehmend verzweifelt, meine letzten Funken Hoffnung und Optimismus am Leben zu erhalten, bin ich innerlich schon längst eher Trigorin als Nina. Dachte ich. Die Adaption in Luzern hat mich daran erinnert, dass wir immer beides sind. Und beides bleiben. Aufgrund der jüngsten Entwicklungen in Amerika hatte ich eigentlich entschieden, eine mögliche Fortsetzung von Hard Land fürs Erste auf Eis zu legen, jetzt werde ich darüber doch noch mal nachdenken. Denn am Ende geht es immer auch um die Menschen, die Gefühle der Charaktere, um die Berührung.
Danke für diese Erinnerung, liebes Luzerner Theater! Danke für alles.
Und wer das Stück selbst sehen möchte, hier sind die Daten, wenn man runterscrollt – es läuft noch bis zum 11. Juni in Luzern.
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P.S. Apropos Hard Land: Dieses schöne Video von Christoph Kramer freut und ehrt mich sehr, sein erstes Buch habe ich wiederum selbst mit großem Vergnügen gelesen.
P.P.S. Das letzte Wort zu all dem hat der Dichter William J. Morris aus Grady:
„Du wirst zurückkehren zu diesen Jahren, doch betreten wirst du sie nicht mehr … Jugend ist der Ort, den du verlassen hast.“