Interview zu „Die Geschichten in uns“

Zum Buchstart habe ich bewusst nur wenige und kleinere Interviews gemacht – darunter dieses persönliche hier mit dem Diogenes Blog. Über das Aufwachsen im Heim und Schwierigkeiten zu Hause, was mir bei der Arbeit am neuen Buch über das Schreiben klar wurde, wieso ich bisher oft eine ähnliche Perspektive wählte – und über mögliche neue Romane. Viel Spaß beim Lesen!

Foto: © Roger Eberhard

Teil I – Vom Schreiben

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Du hast nach Deinem letzten Buch angekündigt, eine Pause zu machen und vorerst keine Romane zu schreiben. Stattdessen hast Du ein Studium angefangen. Wie kam es dazu und wie gefällt es Dir?

Nach zwanzig Jahren Schreiben wollte ich eine Auszeit. Einerseits habe ich gemerkt, dass ich ausgelaugt war und die Leidenschaft verloren hatte, und ich wollte nicht irgendwelche Romane in die Welt setzen, die mir nichts bedeuten. Andererseits hatte ich Lust, etwas Neues zu lernen. Ich dachte, ich studiere ein Semester, aber jetzt sind es schon zwei Jahre. Eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Ich werde es sehr vermissen, wenn ich fertig bin.

 

Was studierst Du?

Das möchte ich erst mal für mich behalten. Ich kann nur sagen, dass ich schon für Soziologie und Philosophie eingeschrieben war – bis ich fast zufällig zu meinem jetzigen Studium kam, das künstlerischer ist. Ich war oft in meinem Leben der Jüngste, es ist spannend, nun einer der Älteren zu sein, und ich bin dankbar, dass ich das alles so machen darf: also mich noch mal so aufs Spiel setzen, neue Freundschaften schließen, Fehler machen, lernen, dazu all die verrückten Abende und Momente … Manchmal glaube ich, dass das alles schon eine Art Midlife-Crisis ist, aber wenn, dann ist es die beste Midlife-Crisis, die ich mir vorstellen kann.

 

Aber ganz vom Schreiben konntest Du dann doch nicht lassen …

Ja, fast ungewollt. Ich habe seit der Abgabe von Hard Land vor knapp vier Jahren keinen neuen Roman angefangen und wollte auch sonst nichts schreiben. Doch Die Geschichten in uns kam einfach zu mir, wie man im Buch lesen kann. Und plötzlich hatte ich wieder Leidenschaft. Zudem muss man für ein Sachbuch – anders als bei einem Roman – die Wirklichkeit nicht für eine fiktive Welt eintauschen.

 

Im Vorwort erwähnst Du, wie vor Jahren die ersten Seiten dieses Buches entstanden sind, sozusagen als Antworten auf kluge Fragen zu Deinen Romanen. Kannst Du uns mehr darüber erzählen, warum Du Dich entschieden hast, in dieser sehr persönlichen Form über das Schreiben zu schreiben? 

Ich glaube, ich kann nichts schreiben ohne meine persönliche Perspektive. Keinen Roman, kein Sachbuch. Deshalb waren auch neutrale Essays nie meins. Wobei ich mir diesmal dachte: Es reicht doch, dass ich selbst durch meine Kindheit und Jugend durchmusste, um zum Schreiben zu gelangen – müssen die Leser:innen jetzt auch noch da durch? Doch ich brauche diesen persönlichen Blick, und ich wollte so ehrlich und offen sein, wie es mir möglich ist.

 

Du hast Deinem Buch ein Zitat von Wittgenstein vorangestellt: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Was hat es damit auf sich für dich? Wie verstehst Du diesen Satz?

Als ich mit dem Schreiben anfing, war ich mir selbst ein Unbekannter. Ich wusste nichts von meinen wahren Gefühlen, weil mir die Worte dafür fehlten. Als Jugendlicher war ich traurig, verloren, unsicher, aber ich hätte das alles niemals so formulieren können. Auf Fragen wie „Wie geht’s dir?“ hätte ich nur gegrinst oder tausend falsche Antworten gegeben, denn ich hatte keine Sprache für mich. Der Roman Vom Ende der Einsamkeit wurde mein erster richtiger Versuch, diese Sprache zu finden. Er hat auf gewisse Weise mein Leben verändert und meine Gefühlswelt geweitet. Bei Hard Land wollte ich dann noch mal ganz bewusst zurückgehen und dem jugendlichen Sam die Worte geben, die ich selbst als Teenager nicht hatte.

 

Du hast immer wieder andere Werke und Anleitungen zum Schreiben gelesen, die Du virtuos in deinen Text einbaust. Wo würdest Du Dein Buch in dieser Literatur verorten? Und warum bleibt Stephen Kings Das Leben und das Schreiben nach wie vor die Bibel des Schreibens für Dich?

Ich wollte etwas schreiben, das alle anspricht, die sich für Literatur begeistern, und das zugleich denen etwas an die Hand gibt, die selbst schreiben wollen. Stephen King hat all das wunderbar gemacht, finde ich. Weil er zuerst von sich selbst erzählt, von seiner Leidenschaft für das Erzählen, wie er aufwuchs, zum Schreiben kam, scheiterte und jahrelang abgelehnt wurde. So dass man weiß, wer einem im Folgenden Ratschläge oder konkrete Einsichten gibt. Zugleich bin ich selbst nur eine Antwort auf die Frage: „Was ist Schreiben?“ Deshalb wollte ich immer wieder auch die Stimmen von anderen einfließen lassen, so dass im Idealfall ein vielstimmiger Chor entsteht.

 

Weißt Du, wie viele Bücher Du insgesamt für dieses Werk gelesen hast?!

Knapp sechzig. Darunter großartige Werke wie Big Magic von Elizabeth Gilbert, The Writing Life von Annie Dillard, Bei Regen in einem Teich schwimmen von George Saunders und immer wieder die fantastischen Essays von Zadie Smith. Ich habe versucht, spannende und erhellende Auszüge daraus einzubauen. So erstaunte mich beim Lesen oder auch bei Gesprächen mit Autor:innen immer wieder, wie anders wir alle an das gleiche Thema herangehen. John Irving schreibt seine Enden zuerst, auch ich muss vorher wissen, wie die Geschichte ausgeht. Simone Lappert dagegen kennt den Schluss oft selbst nicht, wenn sie einen Roman beginnt, auch Zadie Smith und Stephen King arbeiten so. Solche Unterschiede gibt es bei fast allen Themen, das hat mich fasziniert.

 

Du versuchst, bei Deinen Beispielen vor allem Autorinnen zu berücksichtigen. Hat das einen Grund?

Ich wollte es mindestens ausgeglichen halten. Es ist der größte Lesefehler meines Lebens, dass ich erst mit Ende zwanzig begriff, dass ich bis dahin unbewusst eigentlich fast nur Männer gelesen habe. Ich wünschte, ich hätte das schon früher geändert, denn ich habe als Autor wie als Mensch unfassbar davon profitiert, vielfältiger zu lesen.

 

Dein Buch ist eine große Ermutigung zum Schreiben. Gibt es Dinge, die Du über Dich und Dein Schreiben gelernt hast, die Dir vorher überhaupt nicht klar waren?

Vielen Dank. Ich glaube, ich habe besser verstanden, wieso manches funktioniert hat – und anderes nicht. So hadere ich seit Jahren mit meinen ersten drei Romanen, aber nun wollte ich herausfinden: Wieso genau? Was waren die Schwächen dieser ersten Romane, wieso fehlte es ihnen an Tiefe, warum scheiterte ich teils damit, überzeugende Konflikte aufzubauen und durch die Sprache ein spezielles Gefühl zu vermitteln? Oder genereller gedacht: Worin unterscheidet sich eine fiktionale Welt von der wirklichen Welt und wie erzeugt man Spannung oder fesselnde Charaktere? Diese Fragen hatte ich mir nie bewusst gestellt, das Schreiben lief intuitiv ab. Umso spannender war es für mich, ihnen nun anhand eigener und anderer Werke konkret nachzugehen – aber aus der Perspektive des Lernenden. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Anfragen für Poetikdozenturen, aber ich wollte mit diesem Buch nicht in den Vorlesungssaal, sondern in die Schreibwerkstatt.

 

Gibt es etwas, das Du mit den gesammelten Erkenntnissen im Nachhinein bei Deinem Schreiben bedauerst?

Ich habe zu spät begriffen, wie wichtig Nebenfiguren sind. Gerade in meinen ersten Romanen sind sie nicht gut genug ausgearbeitet, sowohl die weiblichen als auch die männlichen. Es ist zum Beispiel schwer, den Charakter von Frank aus der alten Version von Spinner zu beurteilen – weil er da nämlich keinen hatte. Dabei sind Nebenfiguren extrem wichtig. So erzählte mir jemand das Beispiel aus dem Fänger im Roggen und dass die Hauptfigur Holden Caulfield im Buch nie stärker herauskäme als in den Szenen mit seiner kleinen Schwester Phoebe. Das stimmt. Meine späteren Romane wie Vom Ende der Einsamkeit und Hard Land leben von nichts so sehr wie von den anderen Charakteren im Buch. Sie tragen die Geschichten.

 

Teil II – Vom Leben

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Der Untertitel Deines Buches lautet: Vom Schreiben und vom Leben. Hat für Dich das Schreiben Vorrang vor dem Leben?

Schreiben war meine Rettung, war mein – ‘tschuldigung – Weg raus aus der ganzen Scheiße, aus der inneren Einsamkeit, aus dem Schmerz, aus dem Bruch zwischen meiner großen Klappe und dem Schweigen, das ihr zugrunde lag. Und es gab Momente, wo ich dem Schreiben alles unterordnete und besessen an den Texten feilte, um es hinzukriegen. Vor allem in den Jahren nach der Schule, als ich – anders als meine Freunde – nicht studierte, sondern tagsüber arbeitete und nachts schrieb. Auch in Ferien und an Weihnachten saß ich oft an den Romanen oder war physisch anwesend, aber mit dem Kopf in einer anderen Welt. Seit Mitte zwanzig habe ich da aber eine bessere Balance. Und ich habe das Glück, inzwischen wirklich viele wunderbare Menschen in meinem Leben zu haben. All das gleicht das Schreiben mit dem Leben aus.

 

Du erzählst von den chaotischen Verhältnissen bei Deinem Vater und wie Deine Mutter immer wieder in Psychiatrien war, während du mit sechs Jahren in ein Heim kamst. Würdest Du sagen, dass diese Zeit und die Internate Dein Schreiben beeinflusst haben?

Ich musste mich früh um meine Eltern kümmern und bin nie zu Hause zur Schule gegangen, das hat mich als Erzähler sicher geprägt. Zugleich hat es mich auch von anderen entfremdet. Es dauerte, bis ich begriff, dass die meisten Menschen in meinem Leben anders aufgewachsen sind als ich. Kürzlich habe ich zum ersten Mal nach dreißig Jahren mein altes Grundschulheim besucht und kam auch in Kontakt mit heute erwachsenen Kindern von damals. Das hat mich aufgewühlt und berührt, es bedeutet mir mehr, als ich sagen kann. Ich habe im Laufe der Jahre eine Geschichte aus dieser Zeit gemacht, aber es ist keine Geschichte. Tief in mir bin ich vieles, aber mit am meisten bin ich der Sechsjährige damals in diesem Heim.

 

Du schreibst, dass Du Deine eigene Geschichte lange Zeit nicht erzählen konntest. Sind Dir diese tiefe Selbsterkundung – wie schreibt Benedict Wells und warum? – oder der Blick in die Vergangenheit schwergefallen?

Ja, aber am Ende war es auch eine Befreiung. Mein Aufwachsen war schief und ein Stück weit traumatisch, aber ich habe nun mal nichts anderes. Es ist mein Leben. Und ich kann nicht aufrichtig über meinen Weg zum Schreiben berichten, ohne ein paar Realitäten zu benennen. Außerdem gab es ja auch das Positive: Das Grundschulheim war ein guter Ort für mich, dazu haben meine Eltern mich bei allen Problemen immer geliebt und ermutigt. Mein Vater und ich waren uns bis zuletzt wahnsinnig nahe, und – das kommt in diesem Buch über die Anfänge etwas zu kurz -, meiner Mutter ging es in ihren letzten Jahren besser. Ich habe sie damals oft besucht, dann haben wir zusammen gekocht und gegessen und stundenlang über alles Mögliche geredet. Diese innigen Begegnungen bedeuten mir sehr viel und bleiben mir. Auch deshalb wollte ich über das alles schreiben.

 

Inwiefern?

Früher wurden Menschen mit psychischen Krankheiten – wie meine Mutter sie hatte – gesellschaftlich oft totgeschwiegen. Ich will das nicht fortführen. Meine Mutter war hier, sie war schlau und fröhlich, konnte sich an kleinsten Dingen erfreuen und war gewieft im Jassen. Ich habe sie sehr geliebt. Und daneben hatte sie eben eine Krankheit, die Wunden reißen konnte und früh Verantwortung mit sich brachte, und die man heute zum Glück besser behandeln kann. Es gibt noch immer kaum Geschichten über bipolare Störungen, ich wollte deshalb als Autor nicht schweigen, sondern zeigen, dass es bei aller Schwierigkeit auch immer das Schöne geben kann; die Annäherung nach schmerzhaften Phasen und das Verständnis, die guten Momente und das Liebevolle. Und zugleich habe ich versucht, Angehörigen wie mir damals eine Stimme zu geben. Denn als Kind von Menschen mit psychischen Krankheiten kann es passieren, dass man mit seinen eigenen Verletzungen erst mal irgendwo weit draußen in der Sprachlosigkeit strandet. Umso mehr hat es mich inspiriert, wenn andere offen über die Widrigkeiten in ihrem Leben erzählten. Das bestärkte mich.

Foto: © Julien Menand

 

Gab es trotzdem eine besondere Schwierigkeit bei diesem Buch?

Alles in das richtige Verhältnis zu setzen. Das Manuskript hatte mehrere Fassungen mit teils unterschiedlicher Länge, gerade, was den Fokus auf meine Familie angeht. Über meine Eltern hätte ich noch viel mehr erzählen können, allein schon über die Herkunft meines Vaters und die Vergangenheit meiner deutschen Familie. Aber dann hätte ich auch über meine Schweizer Mutter mehr erzählen müssen, um die Balance zwischen meinen Eltern zu halten. Und dann entsprechend mehr über meine Schwester und mich. Irgendwann wäre es unmöglich gewesen, von dort aus noch eine Brücke zu einem Buch über das Schreiben zu schlagen. Es wäre ein völlig anderes Werk geworden. Ich musste mich also zurückhalten und auf das Wesentliche konzentrieren, anderes nur andeuten. Auch wenn es mir schwerfiel.

 

Hast Du vor, hier eines Tages weiterzugehen und zum Beispiel Deine Kindheit und Jugend autobiografisch aufzuarbeiten?

Als Autor befinde ich mich gefühlt auf dem Rückweg. Es kann sein, dass ich nicht mehr allzu viele Romane schreibe, eher andere Genres und Stoffe. Und einer davon könnte meine eigene Geschichte sein. Im Buch habe ich wie gesagt nur die Metadaten geschildert, aber nicht die Szenen selbst. Ich habe noch nicht den Ton dafür, den Abstand, die Perspektive und die literarische Sprache. Ich warte also einfach mal, und vielleicht geht das Tor eines Tages auf. Aber selbst dann weiß ich nicht, ob ich es auch veröffentliche.

 

Teil III – Von der Zukunft

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Bis auf Short Stories hast Du meist männliche Helden gehabt. Hast Du mal überlegt, aus einer weiblichen Perspektive zu schreiben?

Ja, das habe ich defintiv vor, und mich stört ehrlich gesagt, dass ich es noch nicht hinbekommen habe. Wobei es mir anfangs gar nicht auffiel. Bei meinen ersten vier Romanen bin ich so oft gescheitert, dass ich mir in dem Chaos kaum Gedanken über solche Muster gemacht hatte. Später habe ich bemerkt, dass ich meist über ähnliche Themen wie Einsamkeit und Verlust schrieb – mit einer männlichen Hauptfigur. Ich wollte das Muster ändern, war da aber auch bewusst zurückhaltend. Als Mann werde ich die Welt niemals vollständig aus der weiblichen Sicht erleben. Es hat immer etwas anmaßendes, fremde Perspektiven einzunehmen; wenn es unglaubwürdig ist, wird es zurecht kritisiert. Umso sicherer möchte ich mich fühlen, und bisher tat ich das noch nicht – auch, weil ich jung anfing: Die meisten Geschichten habe ich in meinen Zwanzigern entworfen, selbst Hard Land noch, da ist es vielleicht normal, dass man sich erst mal an Perspektiven hält, die einem vertraut sind. Wäre ich eine Frau, hätten meine bisherigen Romane vermutlich alle eine weibliche Heldin gehabt, denn ich wollte beim Schreiben eigene Erfahrungen verarbeiten.

 

Hast Du es trotzdem mal mit einer anderen Perspektive probiert?

Ja, mit Mitte zwanzig wollte ich über eine jugendliche Ausreißerin schreiben, aber es hat mich noch nicht überzeugt. Es fehlten Details und Beobachtungen, die dem Text Seele verleihen. Also versuchte ich mich heranzutasten. Bei Vom Ende der Einsamkeit etwa habe ich an nichts so intensiv gearbeitet wie an den weiblichen Charakteren. Habe sie mit Mitbewohnerinnen, meiner Schwester und Freundinnen diskutiert und sieben Jahre lang alles getan, um mich in diese Figuren einzufühlen. Und das Schöne an der Literatur ist ja eh: Man findet jede Sichtweise, jedes Thema, ohne dass eine Person das alles allein abdecken müsste. Ist man also auf der Suche nach starken weiblichen Perspektiven, kann man seine Aufmerksamkeit einfach so großartigen Werken wie Liebe ist gewaltig von Claudia Schumacher oder Mädchen, Frau etc. von Bernardine Evaristo schenken. Am Ende richtet sich Literatur ohnehin an unser universelles Menschsein. Ich lese oft Romane von Frauen mit weiblichen Heldinnen und erkenne mich darin selbst. Ich hoffe, dass das auch umgekehrt möglich ist.

 

Du warst sehr jung bei deinen ersten Büchern. War das im Rückblick ein Segen oder auch ein bisschen ein Fluch?

Es war ein Traum und ein Privileg, so jung verlegt zu werden, es hat mir sehr viel ermöglicht. Ich hatte auch das Gefühl, mich unter dem Druck des Veröffentlichens und durch die Arbeit mit einem Lektorat schneller zu entwickeln. Aber ich musste in dem Alter nicht nur als Autor erwachsen werden, sondern auch noch als Mensch. Als Teenager war ich zum Beispiel ein schüchterner Spätzünder und in meinen ersten Berlinjahren eher einsam. Mir fehlte deshalb manches an Erfahrung, was ich anfangs beim Schreiben kompensieren musste. Trotzdem habe ich schon damals versucht, diverse Geschichten zu erzählen.

 

Warum war Dir das wichtig?

Weil ich daran glaube und so aufgewachsen bin. Im Heim waren wir ein diverser Haufen, kamen auch von überall her, aber das hat nie eine Rolle gespielt. Es ging nur darum, wie man war. Ich wollte nicht, dass die Figuren in meinen Büchern immer nur weiß und heterosexuell sind; so ist die Wirklichkeit nicht. Aber natürlich habe ich bei meinen ersten Büchern den Ton nicht immer so getroffen, wie ich es mir heute wünschen würde. Und siehe die Frage von vorhin: Hätte ich mich dann noch mit neunzehn oder zwanzig hingestellt und gesagt: „So, Leute, ich hatte zwar noch nie eine richtige Freundin, aber jetzt kommt der große Roman aus der Sicht einer Frau“, wäre ich vollends verrückt gewesen. Ich glaube, es ist gut, seine Grenzen zu respektieren. In Zukunft freue ich mich aber darauf, neue Perspektiven auszuprobieren – und zu sehen, ob und wie es funktioniert.

 

Bedeutet das, dass Du wieder Geschichten schreibst? Hast Du schon Ideen?

Momentan habe ich noch ein Jahr Studium, aber für danach plane ich Kurzgeschichten und ein Theaterstück über drei Schauspielerinnen, die nach einem missglückten Casting auf surreale Weise nicht mehr den Raum verlassen können. Ich möchte auch ein literarisches Sachbuch über den Umgang mit Tod und Trauer schreiben.

In meinem Zimmer in Berlin, wo ich meine ersten beiden Romane schrieb (einen Rundgang gibt es hier).

 

Und wie lange müssen Deine Leser:innen auf einen neuen Roman warten?

Ich habe eine Idee für einen Krimi-noir mit einer bipolaren Heldin. Die Geschichte wäre aber düster und eine Dystopie, und angesichts der bedenklichen Weltlage bin ich nicht in der Stimmung dafür. Dafür überlege ich, erst eine Fortsetzung zu Hard Land zu schreiben, schon weil ich die Figuren so vermisse. Ich zögere, denn das wäre zum hundertsten Mal ein Roman über Verlust und einen Roadtrip, mitsamt der vertrauten männlichen Perspektive. Ich glaube aber, es könnte eine sehr schöne Geschichte werden, erwachsener und tiefer als der erste Teil.

 

Du nennst die Weltlage bedenklich. Was macht Dir im Moment am meisten Sorgen?

Es bestürzt mich, wie viele Länder nach rechts abdriften, wie stark Antisemitismus, Rassismus und Hass auf Muslime zunehmen, wie nationalistisch viele Menschen wieder denken. Als hätte all das nicht immer nur Leid, Ausgrenzung und Krieg gebracht. Vor einigen Jahren habe ich mehrere Texte gegen die AfD geschrieben, aber nie hätte ich mir vorstellen können, wie schnell sich die damals befürchteten Entwicklungen vollziehen würden. Und das hier in Deutschland, mit unserer schrecklichen Vergangenheit. Doch auch im restlichen Europa oder in Amerika wirkt es, als wäre die schützende Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg mit seinen sechzig Millionen Toten verblasst. Es gibt den Spruch, dass Geschichte sich nicht wiederholt, aber reimt. Wir müssen uns mit allem, was wir haben, gegen den Rechtsruck zur Wehr setzen. Mit unseren Stimmen bei den Wahlen, aber genauso mit unseren Stimmen in der Gesellschaft.

 

Gibt es Momente, wo sich das alles auch auf Dein Schreiben auswirkt?

Ich bin kein dezidiert politischer Autor, versuche aber, in meinen Büchern ein humanistisches Weltbild zu vermitteln. Umso mehr, als ich gerade mit meinem Glauben an die Menschheit ringe. Doch ich glaube an den einzelnen Menschen. Und klar kann man sagen: Die Welt geht unter, wieso sollte man da als Erwachsener überhaupt noch so etwas Kindisches machen wie Geschichten erzählen? Aber am Ende ist es dieser kindliche und hoffnungsvolle Teil in uns allen, den es in diesen zunehmend düsteren Zeiten zu erhalten gilt – und der auch dafür sorgt, dass man sich wieder mit einer naiven Begeisterung an eine Geschichte setzt.

 

Du schilderst in Deinem Buch, wie Du 2007 zu Diogenes gekommen bist. Damals warst Du dreiundzwanzig und der jüngste Autor des Verlags, jetzt bist Du vierzig. Wie fühlst Du Dich beim Blick zurück?

Dankbar. Es ist verrückt, wie es seitdem lief und dass ich hauptberuflich Geschichten erzählen darf. Ich arbeite hart, aber ich weiß auch, dass ich einen Haufen Schwächen habe, seien es die angesprochenen wiederkehrenden Themen oder anderes. Umso schöner ist es, dass die Geschichten trotzdem von anderen Menschen angenommen oder gemocht werden. Es klingt platt, wenn man das sagt, aber: Dieser Zuspruch bedeutet mir sehr, sehr viel.

 

Und was hat sich in den siebzehn Jahren seitdem bei Dir selbst verändert?

Mit Mitte zwanzig wusste ich weder genau, was für ein Autor ich bin, noch was für ein Mensch. Damals half es mir, ins Ausland zu gehen. Ich hatte Angst vor diesem Schritt, doch der Umzug nach Barcelona hat vieles verändert. Ich habe dort fantastische Menschen getroffen und bin generell mutiger geworden, war später auch für längere Zeit in Amerika und in Paris. Das alles war unvorstellbar, wenn man sich überlegt, wie ich als Jugendlicher war, und das wurde mir speziell an meinem vierzigsten Geburtstag bewusst.

 

Wieso das?

Ich bin ein Schaltjahrkind und wurde an diesem Tag vierzig und zehn zugleich, was mich vermutlich ganz gut trifft. Ich habe eine Party gefeiert, auf der meine verschiedenen Leben zusammenkamen. Meine langjährigen Freunde aus den Orten, an denen ich gelebt habe, meine neuen Freunde aus dem Studium, meine Schwester, viele Verwandte und meine damalige Freundin. All das ist in dieser Nacht zusammengeflossen, alle haben sich gut verstanden, auf Englisch, Deutsch, Französisch und Spanisch. Und ich konnte es natürlich überhaupt nicht genießen und hatte ständig Schiss, dass irgendetwas schiefgeht (lacht). Aber irgendwann, so um vier Uhr früh, war ich dann doch mal entrückt und hab auf die Tanzfläche geblickt. Auf die geliebten Menschen in diesem Raum. Ich habe an meine Eltern gedacht, die in den letzten Jahren leider gestorben sind, und sie vermisst, also waren sie auf gewisse Weise auch dabei. Und dann habe ich an schwierige oder depressive Jahre gedacht, und wie verdammt unwahrscheinlich mein Weg war, was für ein Glück ich hatte, denn vieles hätte anders ausgehen können … Es hat sich also einerseits nichts verändert seit damals. Ich habe in mir noch immer die gleichen Macken wie seit meiner Kindheit und Jugend, die gleichen Ängste, Fehler und Unsicherheiten. Und zugleich hat sich alles verändert: Mein Umgang damit.