Der folgende Text erschien zuerst Anfang 2015 in der ZEIT.
Stellt man sich Europa als riesigen Bürokomplex vor, dann wäre der Liegewagen eines Nachtzugs die Kantine. Ein schlichter, aber geselliger Ort, an dem es egal ist, aus welcher Abteilung man kommt, an dem jeder mit jedem redet – der schwedische Banker mit der spanischen Rucksacktouristin, die englische Professorin mit dem französischen Landschaftsgärtner. Vor der nach Polsterstaub riechenden Viererkabine mit den serviettenartigen Bettdecken sind alle gleich, und häufig entstehen gerade dadurch einzigartige Begegnungen.
Ich habe das oft genug erlebt. Da ich starke Flugangst habe, bin ich seit meiner Kindheit immer wieder auf Nachtzüge angewiesen. Die erste Fahrt unternahm ich mit zwölf, in den Ferien nach Rom, und ich erinnere mich noch, wie ich nachts den Vorhang zur Seite schob, während der Zug gerade an einem geheimnisvoll wirkenden italienischen Bahnhof hielt. Es folgten viele weitere Fahrten, und als ich 2010 für mehrere Jahre nach Barcelona zog, wurde der Nachtzug zu meinem wichtigsten Transportmittel.
Nun hat die Deutsche Bahn gegen Ende des vergangenen Jahres ihre Verbindungen nach Paris, Amsterdam und Kopenhagen gestrichen – angeblich zu unrentabel. Auch in Spanien und Frankreich ist das Netz inzwischen dünner geworden. Zuletzt dauerte meine Reise von München nach Barcelona zwei Tage, und ich zahlte für die Hin- und Rückfahrt 700 Euro. Hin- und Rückflug dagegen hätte ich als Frühbucher womöglich für unter 100 Euro bekommen können. Ökonomisch gesehen spricht also wenig für den Nachtzug – weder aus Firmen- noch aus Kundensicht. Trotzdem lieben viele Menschen das Gefühl, zum sanften Stakkato der Räder einzuschlafen und am nächsten Morgen in einem anderen Land aufzuwachen. Manche schätzen auch das Ferienlager-Flair der Mehrbettabteile, wollen sich durch die Nacht im Zug das Hotel sparen oder ganz einfach umweltbewusster unterwegs sein.
In Zeiten von WhatsApp, Livetickern und Blitztrips mit Ryanair stehen Nachtzüge für Entschleunigung. Sie sind das Drehscheibentelefon des Reisens, eine Art analoges Relikt im digitalen Zeitalter. Auch ohne Flugangst würde ich ihr komplettes Verschwinden bedauern – genauso wie das vieler Buchhandlungen, Plattenläden und kleiner Kinos. Nachtzüge bieten zwar keinen modernen Komfort, doch dafür bekommt man für sein Geld oft etwas, was in der heutigen Zeit selten geworden ist und was man im ersten Moment vielleicht nicht einmal gesucht hat: eine intime Unterhaltung mit einem fremden Menschen.
Denn anders als in der Pendlerbahn oder im Flieger kann man sich hier nicht ewig mit Kopfhörern hinter seiner Zeitung verstecken, auf dem Handy tippen oder Filme schauen. Spätestens beim Beziehen des Bettes wird klar, dass man nun wirklich zu viert und auf engstem Raum zusammen die Nacht verbringen wird. Irgendwann stellt man sich, die Zahnbürste im Mundwinkel, dann doch vor, fragt die anderen, woher sie kommen. Chipstüten werden aufgerissen, Bierdosen gereicht. Plötzlich ist man mitten im Gespräch mit Menschen, die man sonst nie kennengelernt hätte. Da war der achtzehnjährige Pole, dessen Eltern gestorben waren und der nun eine Weltreise machte und mir von seinen Erlebnissen in Honduras erzählte (und nach dem Löschen des Lichts, während die anderen Mitreisenden schliefen, auch davon, wie seine Eltern ums Leben gekommen waren). Der siebzigjährige österreichische Broker, der haarsträubende Anekdoten aus seiner Zeit in New York zum Besten gab, von Eartha Kitt, Drogenpartys, Schlägereien und dem Studio 54. Da waren die drei amerikanischen Studenten auf ihrem ersten Trip durch Europa, randvoll mit Fragen über den Kontinent, während sie im Gegenzug vom Landleben in Iowa erzählten. Der spanische Schaffner, der im Abteil nebenan heftigst von zwei jungen Französinnen angeflirtet wurde und der immer wieder herüberkam, um uns davon zu berichten, bis er dann tatsächlich die Nacht bei den beiden Frauen verbrachte; angeblich. Beinahe jede einzelne Fahrt barg eine Überraschung, eine Geschichte, eine Begegnung. Einzig meine geheime Wunschvorstellung, ich könnte mich zufällig mit der Frau meines Lebens im selben Abteil befinden, erfüllte sich nie. Immer nur Männer. Erst dachte ich, das Schicksal sei gegen mich, bis ich erfuhr: In französischen und spanischen Zügen herrscht strikte Geschlechtertrennung, nur die italienische Zuggesellschaft förderte mit ihren gemischten Sechserabteilen die amore in treno.
Zwar gibt es auch bequeme Schlafwagen mit nur drei oder zwei weichen Betten pro Kabine, Dusche im Gang und Frühstück, doch wer etwas erleben will, der geht nach wie vor in den Liegewagen. Dort findet man vor allem drei Arten von Nachtzüglern: die Veteranen, die, gestählt durch unzählige Fahrten, sofort mit jedem per Du sind; die begeisterten Interrailfahrer beziehungsweise Debütanten, deren Augen schon aufleuchten, wenn sie nur hören, dass es auch eine Bar im Zug gibt; und die Zögerlichen, die man erst auftauen muss. Nach dem Löschen des Lichts verwandeln sich einige zudem noch in einen vierten, parallel existierenden Typ: den gefürchteten Schnarcher. In allen diesen Rollen war ich schon unterwegs (bis auf den Schnarcher, hoffe ich). Wenn ich von Deutschland aus nach Spanien fuhr, brauchte ich stets ziemlich lange, bis ich Zeitung oder Buch weglegte und mit den anderen Fahrgästen ins Gespräch kam. Reiste ich dagegen von Barcelona nach Deutschland, war ich durch das geschwätzigere Leben in Spanien sofort auf Betriebstemperatur und meist derjenige, der die Mitreisenden ansprach. Manchmal nutzte ich auch die Möglichkeit, für eine Nacht ein anderer zu sein, dann machte ich aus mir einen hoffnungsvollen Gitarristen oder einen dänischen Medizinstudenten.
Die in alle Richtungen verlaufenden Nachtzugverbindungen erschienen mir immer wie die feinen Nervenbahnen von Europa. Lagen politische Umwälzungen in der Luft, wurde die Viererkabine schon mal zu einer internationalen Talkrunde, und gerade während der letzten Jahre fühlte ich mich hin und wieder als Diplomat wider Willen. Stundenlang habe ich mit Mitreisenden aus anderen Ländern über Merkel und die EU diskutiert und über den Sinn und Unsinn von Austerität. Eine nicht ganz alltägliche Situation, wenn plötzlich ein Franzose mit einem Spanier, einem Griechen und einem Deutschen darüber debattiert, wie man gemeinsam die Krise meistern könnte. Oft habe ich in diesen Gesprächen einsehen müssen, dass man aus Zeitungen letztlich wenig darüber lernen kann, wie Menschen anderer Nationen wirklich denken und empfinden. Und mancher nächtliche Lernprozess hatte durchaus seine schmerzliche Seite.
Vor ungefähr einem Jahr saß ich mit Jean, einem Kanadier, und Oumar, einem jungen Mauretanier, im Abteil. Strecke: Barcelona–Paris. Wir kamen sofort ins Gespräch (Messi oder Ronaldo, wer ist besser?), saßen zu dritt auf dem oberen Bett, tranken billigen Wein aus dem Bordrestaurant und redeten darüber, was wir bei unserer Ankunft machen würden. Ich erzählte von dem kleinen Café am Bahnhof in Paris, in das ich immer zum Frühstücken ging (“Es ist unglaublich gut, da müsst ihr hin!”), Oumar dagegen sprach vom französischen Teil seiner Familie und von seinen beiden Halbbrüdern, die er seit einem Jahr nicht mehr gesehen hatte. Schnell stellten wir fest, dass wir nicht nur dieselben Filme und Bands mochten, sondern auch in vielen anderen Dingen ähnlich dachten, und so war dieser Abend eine jener Gelegenheiten, bei denen man das Gefühl hatte, sofort Freundschaft geschlossen zu haben. Wir zeigten uns gerade Fotos auf dem Handy, als es an die Abteiltür klopfte. Ein französischer Grenzbeamter kontrollierte die Pässe. Oumars Papiere schienen nicht in Ordnung, man führte ihn kommentarlos weg. Sein Gesicht zeigte eine Mischung aus wissender Resignation und Wut. Jean, der Kanadier, und ich redeten gestikulierend auf den Schaffner ein: “Es ist nach Mitternacht, ihr könnt ihn doch nicht allein hier zurücklassen!” Ich blickte nach draußen, wo Oumar verloren auf dem menschenleeren Bahnsteig herumstand. Ein junger Mann mit seinem Rucksack, in einem winzigen Grenzkaff, in dem es kein Hotel oder sonst eine Unterkunft gab. Wir klopften an die Scheibe, gingen raus zu ihm, sprachen ihm Mut zu, gingen wieder rein, um erneut auf den Schaffner einzureden, und in diesem Moment fuhr der Zug schon weiter. Ohne Oumar.
“Wie lächerlich naiv wir waren”, sagte später Jean, oder ich sagte es, es war eigentlich egal, wer von uns beiden. Wir, mit unserem deutschen und kanadischen Pass, unseren goldenen Zaubertickets, die uns den Weg in fast jedes Land der Welt ermöglichten – wir waren uns dessen nur zu gern nicht bewusst gewesen. Wir betranken uns noch zwei Stunden lustlos an der Restaurantbar, und als ich später auf meinem Bett lag und nicht einschlafen konnte (Jean war Typ vier, ein Schnarcher), sah ich Oumar allein am Bahnsteig stehen.
Und wenn es bald gar keine Nachtzüge mehr gibt? Meine Flugangst ist hartnäckig, ich war mit dem Schiff in Amerika, demnächst werde ich nach China fahren, notgedrungen mit der Transsibirischen Eisenbahn. Vor zwanzigstündigen Busfahrten mit anschließenden Nackenschmerzen graut mir dagegen, und Mitfahrgelegenheiten ins Ausland sind schwer zu finden. Nein, für mich gibt es eigentlich keine Alternative: Ich brauche die Nachtzüge – und bin außerdem süchtig nach ihrem speziellen Charme, nach der Nähe der Viererkabine, nach all den Geschichten und kleinen Happy Ends. Ironischerweise half bei einem davon Facebook. Dort schrieb mir Oumar schon vor Monaten, dass er inzwischen wohlbehalten in Paris angekommen sei und im Laden seines Halbbruders arbeite. Er sei auch schon in dem kleinen Café am Bahnhof gewesen, in dem ich immer frühstückte. “It’s good, but not as overwhelming as you told me”, schrieb er scherzhaft. Ohne digitale Medien könnte ich nie den Kontakt zu ihm halten. Ohne den Nachtzug hätte ich ihn nie kennengelernt.