Das Grundschulheim

Den folgenden Text schrieb ich 2015 für die Anthologie Unbehauste, deren Erlöse an Flüchtingseinrichtungen gingen. Er erschien später auch als Kurzgeschichte im Band Die Wahrheit über das Lügen.

Es sind persönliche Erinnerungen.

 

Keiner von uns war freiwillig hier. Keiner von uns verstand, dass er nicht freiwillig hier war. Wir waren sechs Jahre alt, als wir ins Heim kamen, zu jung, um solche Fragen zu stellen.

Wir hätten auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein können. Manche waren hier gelandet, weil es zu Hause finanzielle und gesundheitliche Probleme gab und die alleinerziehenden Mütter oder Väter überfordert waren. Einer kam aus der „ehemaligen DDR“, was immer das bedeutete, ein anderer war dunkelhäutig und mit seiner Familie vor irgendeinem Krieg geflohen. Da wir als Kinder nichts davon begriffen, weder den Krieg noch die „ehemalige DDR“, noch die Probleme zu Hause, spielte das alles keine Rolle für uns. Wir schliefen zu sechst in einem Zimmer, für Fremdheit gab es ohnehin keinen Platz.

Mein Bett war in der Ecke, gleich neben dem Gemeinschaftsschrank. Poster aus Stafette und Bravo Sport an der Wand, Zeichenblock und Comics auf dem Nachttisch. Jeden Morgen um halb sieben wurden wir geweckt. Gemeinsames Zähneputzen im Duschraum. Erstes Gelächter und laute Stimmen, durchdrungen von Vorfreude auf den Schultag. Es war ein staatliches Internat, liebevoll, aber ärmlich, beim Frühstück gab es nur jeden zweiten Tag Salami und Käse, an den anderen Tagen Butter und Marmelade. Wie früher bei den Lustigen Taschenbüchern, bei denen auf zwei farbige Seiten immer zwei schwarzweiße folgten. Es machte uns nichts aus. Ein Kind sieht nicht den bröckelnden Putz an den Wänden, sondern den Automaten daneben, an dem man für siebzig Pfennig Kakaotüten ziehen kann.

Wir sechs Jungen aus unserem Jahrgang wurden schnell eine verschworene Gemeinschaft. Jeder hatte seine Rolle. Der eine unterhielt nachts mit Geschichten oder hatte sich in Schlägereien bewährt. Der andere bekam Pakete von zu Hause mit Süßigkeiten, die er großzügig verteilte, und konnte bei Hausaufgaben helfen. Der dritte dachte sich Spiele und Streiche aus und war ein guter Tröster. Es interessierte keinen, woher man kam oder wer man war, nur was man tat und was man konnte. Nach dem Mittagessen spielten wir im Wald Szenen aus Filmen und Büchern nach oder schossen auf dem Sportplatz Tore für unsere Lieblingsmannschaften, ehe wir zur „Lernzeit“ ins Heim zurückmussten. Nach den streng überwachten Hausaufgaben gab es Abendessen, gegen acht ging es dann ins Bett.

Wenn die Nacht sich über das Internatsgelände senkte, wurde uns die Landschaft manchmal unheimlich. Dann blickten wir vom Fenster auf den Wald, der in der Dunkelheit verborgen lag, und fühlten uns beklommen und einsam. Das Heimweh verschwand wieder, wenn ein aufmunternder Brief der Mutter eintraf, dass es ihr etwas besser gehe, oder ein liebevolles Päckchen des Vaters, mit einem neuen Schlafanzug, Spielsachen und einer Karte, die man mehrmals las.

Mit sieben bekamen wir dann eine neue Erzieherin, die wir sehr mochten. Nach einer Weile fragte sie schüchtern, ob jemand vor dem Schlafengehen ein „Gutenachtbussi“ wolle. Alle rissen die Arme hoch. Die Erzieherin ging reihum durchs Zimmer, von einem Bett zum nächsten. Verstohlen wartete jeder von uns darauf, dass sie endlich kam, und wenn sie einen dann auf die Stirn küsste, schaute man mit einem verlegenen Grinsen weg. Es wurde fortan unser festes Ritual, unser „Gute Nacht, ihr Prinzen von Maine, ihr Könige von Neuengland“.

Wenn die Erzieherin das Licht gelöscht hatte, wandelte sich das Internat, und auch wir verwandelten uns. Manche Jungen, die den ganzen Tag laut und selbstsicher aufgetreten waren, wirkten plötzlich verletzlich. Andere, stillere hörte man erst jetzt reden und nahm sie ganz anders wahr. Die Nacht gehörte uns. Es war die Zeit, in der wir Kassetten zum Einschlafen hörten und miteinander redeten. In der wir uns Geschichten ausdachten und Witze erzählten und manchmal so laut dabei lachten, dass es uns fast zerriss. In der die anderen schließlich einschliefen und ich meistens noch wach lag, ein Buch nahm und mich damit auf der Toilette einschloss, bis ich endlich müde genug war. In der manchmal einer von uns weinte, ein anderer ihn tröstete, und die restlichen Kinder so taten, als schliefen sie.

Hin und wieder bekamen wir neue Mitschüler, die ein besonders schweres Schicksal zu tragen hatten, über das jedoch fast immer geschwiegen wurde. Heute kann ich wie ein mittelmäßiger Detektiv die Hinweise deuten; die blauen Flecken des einen, die nie schreibenden Eltern des anderen, die unfassbare Armut des dritten. Damals konnte ich es nicht. Wenn wir von zu Hause erzählten, waren es immer phantastische Lügen. Jeder von uns hatte einen Vater, der Millionär war, wohnte in einer Villa mit Pool, reiste in den Ferien durch die Welt; war also offenbar nur rein zufällig hier. Den einen Jungen von uns, der mit dem Mitarbeiter des Jugendamts zweimal im Jahr Spielsachen kaufen durfte, weil er schlicht gar nichts hatte, beneideten wir um diese zwei Tage, statt darüber nachzudenken, was das bedeutete und dass wir offenbar besser dran waren.

Wir liebten den Herbst und den Winter, wenn wir am Sankt-Martins-Tag mit selbstgebastelten Laternen einen Umzug machten und danach ein Eis bekamen. Wenn wir mit den schartigen Schlitten Wettrennen fuhren, den Hügel hinab. Wenn wir am „stillen Mittwoch“ heiße Milch mit Honig tranken und in Decken gehüllt der Erzieherin zuhörten, die uns aus Ottfried Preußlers Krabat und Astrid Lindgrens Mio, mein Mio vorlas. Wir liebten den Frühling und den Sommer, wenn wir am Lagerfeuer saßen und uns Gruselgeschichten ausdachten, die nie wirklich gruselig waren. Wenn wir im nahegelegenen See badeten und unsere Erzieherin später What Shall We Do With The Drunken Sailor auf der Gitarre spielte. Obwohl wir vom Text kein Wort verstanden, sangen wir laut mit.

Wir kamen in die dritte Klasse und begannen, uns für die Mädchen zu interessieren, die in einem anderen Gebäudetrakt wohnten. Auch sie hatten ihre Geschichten, die wir jedoch noch nicht kannten, was sie umso spannender machte. Es gab erste Küsse, die schnell großes Gesprächsthema waren, und Liebesbriefe, auf denen man „Ja“, „Nein“ und „Vielleicht“ ankreuzen konnte. Ich kreuzte fast immer „Vielleicht“ an. Das Heim ging in eine Hauptschule über, daher waren die ältesten Schüler auf dem Gelände die Neuntklässler, die hier ihren „Quali“ machten. Sie wirkten auf uns so erwachsen und reif, und wenn sie von ihren zukünftigen, meist handwerklichen Berufen sprachen, bewunderten wir sie sehr.

Wir waren oft grausam zueinander. Wir kannten die Schwächen des anderen, die geheimen verwundbaren Stellen, und manchmal überkam es uns, und wir schlugen zu. Das Grundschulheim war ein Ort ohne Eltern, es gab deshalb bestimmte Regeln, und es war wichtig, sich zu wehren. Nie in meinem Leben habe ich mich öfter geprügelt, mich besinnungsloser auf jemanden gestürzt und ihn zu Boden gerissen. Wir brachten einander zum Weinen, reizten uns bis zur äußersten Wut und vertrugen uns schon Stunden später wieder. Wir konnten so weit gehen, weil wir wussten, dass wir einander nie ganz verlieren würden. Wie Geschwister. Die Älteren kümmerten sich um die Jüngeren, und wir ließen nie jemanden zurück.

Wir waren anders als die Kinder, die bei ihren Eltern wohnten und mit denen wir tagsüber zur Schule gingen. Manchmal freundeten wir uns mit ihnen an, aber nie zu sehr. Weil wir sie nicht verstanden und sie uns nicht. Weil die anderen Kinder seit Jahren nach der Schule zu ihren Familien zurückgingen und wir auf unser Gemeinschaftszimmer.

Am Schönsten waren die Wochenenden. Die, an denen man endlich nach Hause durfte und dort verwöhnt wurde. Und an deren Ende man dann doch jedes Mal wieder ins Internat zurückmusste und auf der Fahrt bedrückt durch das Fenster sah, wie die Landschaft in der Dunkelheit verschwand. Und die, an denen man mit den anderen Kindern im Heim blieb, an denen es abends einen Disney-Film gab und zum Mittagessen oft Pommes mit Chicken McNuggets. Zwar nur Internats-Chicken-McNuggets, aber immerhin. Zu besonderen Anlässen machten wir Ausflüge zum Weihnachtsmarkt, auf ein Volksfest oder ins Kino, und dann waren auch die Mädchen dabei, was uns jedes Mal in Aufruhr versetzte. In Wahrheit war uns das Heim längst ein Zuhause geworden. Wir haben es im Stillen geliebt, und ich glaube, damals hatten wir alle das Gefühl, es würde ewig so weitergehen.

Als wir die vierte Klasse beendeten, trennten sich unsere Wege. Es kam ganz plötzlich, wir hatten vorher nie wirklich darüber nachgedacht. Manche kamen aufs Gymnasium, andere wieder in ein Internat, manche wechselten auf die Real- oder die Hauptschule; wir landeten alle an verschiedenen Orten, weit voneinander entfernt. Wir hatten uns vier Jahre lang beinahe jeden Tag gesehen, jede Nacht, wir kannten einander besser als jeden sonst und hatten uns geschworen, für immer Freunde zu bleiben. Doch wir sahen uns nie wieder.

Wir waren zu jung, um unsere Freundschaften halten zu können. Und doch denke ich noch oft an die anderen. Ich denke an ihre Geschichten und Eigenheiten, an ihre Gesichter und ihren Platz im Schlafsaal. An unsere nächtlichen Unterhaltungen, wenn das Heim nur uns zu gehören schien. Und wie wir in solchen Momenten das Gefühl gehabt hatten, glücklich zu sein.