Der 1. Blick in die Werkstatt – Über das Schreiben und den Weg zu Diogenes

Der folgende Text stammt von 2017 und basiert auf einem alten Beitrag für das DU-Magazin – über das Erzählen und meine Anfänge bei Diogenes. Er war aber auch eine Reaktion darauf, dass ich auf Lesungen häufig gefragt wurde, wie man einen Roman anfängt und überarbeitet – oder was man bei der Verlagssuche beachten sollte. Da ich selbst noch viel über das Schreiben lerne, wollte ich mir keine großen Antworten anmaßen, sie unterscheiden sich ohnehin von Autorin zu Autor. Doch was ich tun konnte, war zumindest mein persönliches Arbeiten und meinen Weg zu schildern, in der Hoffnung, dass es für ein paar Leser*innen hilfreich ist. Den zweiten Blick in die Werkstatt gibt es hier.

Nachtrag: Zurzeit arbeite ich an einem Sachbuch über das Schreiben, das viele Gedanken dieses Artikels vertieft. Es erscheint Sommer 2024.

   Teil I – Die ersten Schritte

Als ich mit dem Schreiben anfing, besaß ich kaum Erfahrung. Gut, als Kind hatte ich mal eine Katzengeschichte und eine Erzählung zur Serie Das A-Team geschrieben, die so schöne Sätze enthielt wie „Kalifornien, die Stadt meiner Träume“. Aber danach hatte ich jahrelang keine Zeile verfasst – bis ich als Jugendlicher mehr zufällig bei der Schülerzeitung gelandet war. Es folgten ein missratener Buchversuch, das Abitur und der Umzug nach Berlin. Der Plan: erst mal nicht studieren, sondern nur schreiben, um diesem Traum eine faire Chance zu geben.

Damals war ich neunzehn und konnte es kaum erwarten, loszulegen. Tagsüber arbeitete ich in verschiedenen Nebenjobs, nachts saß ich gespannt vor dem leeren weißen Blatt und versuchte, es mit Leben zu füllen, mit Charakteren und Geschichten.

Endlich war ich ein richtiger Schriftsteller!

Doch die Ernüchterung kam schnell. In meinem Kopf leuchteten die Bilder bunt und verheißungsvoll auf, doch als sie dann schwarz auf weiß auf dem Papier standen, war das Ergebnis plötzlich enttäuschend. Der Übersetzer zwischen meiner Phantasie und den tippenden Händen hatte offenbar völlig versagt.

Ich wünschte, das hätte sich inzwischen geändert, aber es ist noch immer bei jedem Buch dasselbe. Hemingway sagte mal dazu: „The first draft of anything is shit.“ Margret Atwood meinte, alle Autor*innen hätten Angst vor der leeren weißen Seite. Und von Philipp Roth stammt die Bemerkung, dass er zwar bei seinen anderen Romanen eine Menge übers Schreiben gelernt habe, das aktuelle Buch jedoch leider noch nie geschrieben habe und somit wieder nur ein Anfänger sei.

In diesen ersten Monaten als Autor begriff ich: Es reicht nicht, eine Szene einfach nur aus dem Kopf niederzuschreiben. Damit sie sich über Bande gespielt – also den Text – auch für fremde Leser*innen halbwegs so anfühlt wie für einen selbst, muss man nach den richtigen Worten und Bildern suchen. Zudem benötigt jedes Buch eine andere Sprache, die man erst mal lernen muss. Für mich ist das Schreiben daher ein Prozess der Annäherung, bis die Geschichte auch schwarz auf weiß und auf dem Papier so ist, wie man sie sich immer schon bunt und wortlos vorgestellt hatte.

Bei meinen früheren Romanen erzählte ich einfach drauflos, selbst wenn ich kaum etwas von der Story und den Charakteren wusste – was dazu führte, dass ich „unterwegs“ vieles improvisieren musste, mich dabei auch oft verirrte.

Heute beginne ich mit dem Aufschreiben des Manuskripts erst, wenn ich ein klares Bild von den Figuren habe, wenn ich weiß, wie die Geschichte anfangen und ausgehen könnte, dazu ein paar Szenen aus der Mitte, Dialogideen und mögliche Konflikte – wobei es auch noch unzählige Lücken gibt. Denn vieles entdeckt man erst bei der Arbeit am Text, wenn man ein Gefühl für ihn bekommt und die Charaktere besser kennenlernt.

Mit acht merkte ich beim Schreiben eines „Das A-Team“-Romans erstmals, wie knifflig das Erzählen einer Geschichte ist. Auch später fühlte ich mich bei jedem neuen Buch so, wie es die Autorin Meg Wollitzer beschreibt: «Ich weiß immer, was ich erzählen möchte, aber auf sehr diffuse Weise, so diffus, dass ich es nicht einmal mir selbst erklären könnte.»

Manche Autor*innen benötigen nur eine einzige richtige Manuskriptfassung. Sie gehen erst dann zur nächsten Szene weiter, wenn bis dahin jeder Satz stimmt und alles perfekt scheint, egal, wie lange das dauert. Von außen betrachtet kommen sie so nur langsam voran. Doch ist der letzte Satz dieses Manuskripts endlich geschrieben, ist auch das Buch selbst so gut wie fertig, müssen nur noch Details verändert werden.

Ich selbst dagegen gehöre zu den der Autor*innen, die mehrere Manuskriptfassungen erstellen. Ich liebe es, den Text als Ganzes vor mir zu haben und ihn nun immer wieder umzuschreiben und jahrelang zu verfeinern – aber dafür muss man eben auch erst mal einen Text haben.

Am Wichtigsten ist für mich daher, die Geschichte chronologisch und in einem Rutsch von Anfang bis Ende zu Papier zu bringen, egal, wie fehlerhaft sie noch ist und wie schwach manche Charaktere wirken. Hauptsache, ich bin einmal durch – die eigentliche Arbeit beginnt danach. Denn der geschriebene Text (und vor allem der Schluss davon) dient mir als Kompass. Mit ihm spüre ich, wo ich wirklich hinwill – und kann den Roman nun in diese Richtung steuern.

Bei dieser ersten Fassung gilt für mich das Gleiche wie bei Orpheus und Eurydike: bloß nicht (zu oft) zurückblicken. Denn der kostbarste Rohstoff beim Schreiben ist Enthusiasmus. Viele beginnen begeistert mit einem Roman, kommen irgendwann nicht weiter, lesen stattdessen noch mal den Anfang, merken, dass auch der gar nicht so toll ist, wie erhofft, verbessern ihn daraufhin mehrfach – und verlieren irgendwann die Lust.

Nutzt man die Anfangsenergie jedoch, um eine Geschichte von vorn bis hinten fertig zu schreiben, lässt sich daraus wieder die dringend benötigte neue Energie für die nächste Fassung schöpfen.

Was ich als Anfänger ebenfalls gern gewusst hätte: Es ist völlig normal, Ängste und Zeifel zu haben und sich zu enttäuschen; den Text zäh zu finden oder etwas nicht hinzukriegen. Scheitern gehört beim Schreiben nicht nur dazu, es ist oft sogar ein notwendiger Zwischenschritt und wegweisend. Oder wie Samuel Beckett sagte: Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.“

Und so geht es bei einer Rohfassung für mich nicht darum, im ersten Anlauf etwas Großartiges zu verfassen, das wäre ohnehin fast umöglich. Entscheidend ist vielmehr, dass man unterwegs nicht aufgibt und schon mal Erkenntnisse für die zukünftigen Fassungen sammelt. Denn kaum etwas ist beim Schreibprozess erfüllender, als ein Manuskript mit etwas Abstand, frischen Ideen und konstruktiver Kritik zu überarbeiten – und dabei zu spüren, wie der Text stärker wird.

 

   Teil II – Überarbeiten und (kritisches) Feedback

Alle Autor*innen gehen anders mit Kritik um und haben ihren eigenen Weg. Ich selbst versuche jeden neuen Roman wie ein Kind zu betreten, zunächst mit dem Unterbewusstsein zu schreiben und mich von den Figuren, Ideen und Szenen mitreißen zu lassen – ehe dann im Laufe der Jahre zunehmend das erwachsene „Ich“ übernimmt. Mit kühlerem Blick lektoriert es das Geschriebene und versucht es in Form zu bringen, hinterfragt zudem, warum man diese Geschichte eigentlich erzählt und was ihr wahres Thema sein könnte. In diesen Phasen bin ich auch dringend auf Feedback angewiesen, auf den kritischen Blick von außen.

Ein simples, aber vielleicht hilfreiches Bild meiner Vorgehensweise ist der Bau eines Autos. Zunächst kümmere ich mich noch allein um Karosserie und Motor, also um das Gerüst der Handlung, Figuren, Schlüsselszenen, Dialoge und die Wahl der passenden Sprache. Ist der Wagen dann nach einem halben Jahr oder Jahr fahrtüchtig, schicke ich ihn auf die Teststrecke und gebe diese Rohfassung zum ersten Mal jemandem zum Lesen. Mit dem Feedback geht es zurück in die Garage, zum Tunen: Schrauben nachziehen, Teile austauschen, neue Szenen einbauen, Verdichten. Anfangs werfe ich dabei oft ganze Figuren raus oder schreibe das Manuskript radikal um. Dann nächste Testfahrt, nächstes Feedback. Das geht so lange, bis das Auto nach mehreren Fassungen reibungslos seine Runden dreht. Anschließend kommt der Lack: die Details und sprachlichen Feinheiten. Und am meisten Spaß macht wie immer das Polieren am Ende.

Meine besten „Mechaniker*innen“ sind meine strenge Lektorin, mein unbestechlicher Agent, mein kritischer alter Deutschlehrer, der aus Berufsgründen gar nicht anders kann, als fiese Kommentare an den Rand zu kritzeln. Ein festes Team aus fünf, sechs Leuten, deren Meinung mir beim Schreiben extrem wichtig ist. Später suche ich mir dann oft noch weitere Testleser*innen, die die Geschichte nicht kennen und auch nichts mit dem Literaturbetrieb zu tun haben. Wichtig ist nur, dass sie gern lesen und über das Buch reden können, als wäre es nicht von mir. Dass sie vor mir nichts zurückhalten.

Denn nur konstruktive und schonungslose Kritik bringt den Text weiter. Manche Probeleser*innen wollen nicht verletzen und sagen beschönigende Dinge wie: „Das Buch wird immer besser!“ Andere dagegen sind ehrlicher und sagen: „Du, der Anfang ist langweilig und viel zu lang!“ Beide Aussagen meinen das Gleiche, aber nur bei letzterer ist man gezwungen, über die betreffende Stelle nachzudenken.

Da man beim Schreiben oft „blind“ für den eigenen Text wird, ist es gut, ihn mal mit den Augen von jemand anderem zu betrachten und zu überlegen: Ist der Einstieg denn überhaupt stark oder könnte er inzwischen nicht ganz anders und spannender sein? Oder: Gefällt mir diese Wendung noch? Ist die Figur lebendig genug? Es geht darum, ein Bewusstsein dafür zu kriegen, wieso man manche Stellen trotz Kritik sofort verteidigt, während man bei anderen insgeheim froh ist, dass sie endlich mal so offen bemängelt wurden. Kurz: was für ein Buch man eigentlich schreiben möchte.

Einer meiner Lieblingstestleser gab mir gern Seiten wie diese zurück.

Leider sind die obligatorischen Fehler und Hürden bei jeder Geschichte andere, so dass man sich stets neu auf sie einstellen muss. Bei meinem ersten Roman Spinner etwa war ich neunzehn und hatte mich noch nicht getraut, ernstere Szenen auszuschreiben. Ich dachte, ich müsse ständig unterhalten und pointiert sein, alles war hastig erzählt, und wenn es hart auf hart kam, hatte ich mich weggeduckt und in Ironie geflüchtet. Das Buch besaß so aber zu wenig emotionale Substanz, die Wut der Hauptfigur blieb meist unerklärt. Und wie leichtfertig ich mit einem Thema wie dem Tod des Vaters umgegangen war, hat mich später beschämt und mir keine Ruhe gelassen. Erst, als ich Spinner viele Jahre nach der Veröffentlichung noch einmal überarbeiten durfte, konnte ich meinen Frieden mit dieser Geschichte machen.

Bei Fast genial wiederum hatte ich das Problem, dass ich die Vorlage (mit der Samenbank der Genies und der Vatersuche) entweder zu einem komplexen langen Roman hätte verarbeiten können oder zu einer straight erzählten Road Story. Ich entschied mich für letzteres, trotz der schweren Thematik sollte das Buch so zugänglich wie möglich werden. Ich wollte die Leser*innen erst spielerisch einfangen und sie dann am Ende durch die Nähe zur Hauptfigur dazu bringen, sich selbst Gedanken zu machen. Dafür suchte ich einen schlichten Erzählton, um die Handlung in den Vordergrund zu rücken.

Dieses Einfache, Flotte benötigte beim Überarbeiten jedoch am meisten Zeit, und genau die gab ich mir nicht. Ich lebte damals in Barcelona, arbeitete wieder als Kellner und gab unter diesem prekären Druck das Manuskript ein paar Monate zu früh ab. Das fiel mir zum einen auf der anschließenden Lesereise auf, zum anderen bei der Arbeit am nächsten Roman, als ich erstmals begriff, wie wichtig Sprache ist. Auch bei Fast genial hatte ich das Glück, das Buch Jahre nach der Veröffentlichung noch mal überarbeiten zu dürfen (allerdings gestaltete sich der Prozess diesmal schwieriger).

Die bisher größte Herausforderung war jedoch Vom Ende der Einsamkeit, denn ich musste dafür als Schriftsteller alles noch mal neu lernen. Zunächst bedurfte es einer anderen Sprache. Im Gegensatz zu den früheren Romanen konnte ich hier nicht einfach draufloserzählen, da nicht die Handlung im Vordergrund stand, sondern die Figuren – und das Gefühl zwischen den Zeilen. Und das ließ sich nur über eine bewusst gewählte, literarische Sprache transportieren.

Ein weiteres Problem war die Handlung, die fünfunddreißig Jahre umfasste. Wieso die Verlobungsfeier der Schwester schildern und nicht die Hochzeit des Bruders? Was lässt man raus, was nicht? Das Buch hatte zwischendurch 800 Seiten, ich wollte die Geschichte jedoch möglichst dicht erzählen und habe sie nach und nach auf knapp 360 Seiten gekürzt. Oft habe ich überlegt, wo ich die Schnitte setze; was ich zeigen muss, und was ich der Phantasie des Lesers überlassen möchte. Wie bei einem Jenga-Turm zog ich einzelne Szenen und Beschreibungen heraus.

Natürlich stürzte der Turm dabei mehrmals zusammen, und es gab teils gravierende Fehlentscheidungen wie den Wechsel der Erzählperspektive in die dritte Person. Nach vier Jahren Arbeit war der Roman ein verworrenes Desaster. O-Ton meines damaligen Testlesers: „Tut mir leid, aber die Geschichte funktioniert für mich nicht. Sie ist nicht szenisch genug, oft lieblos runtererzählt, die Figuren berühren mich kaum. Es liest sich wie ein Treatment für ein Buch, das man noch schreiben müsste. Ich weiß, du hast Jahre daran gesessen, und ich kapier schon auch, was du willst, aber find’s einfach nicht gut. Sorry.“

Ich weiß noch, wie ich danach durch die Stadt taumelte und am liebsten geschrien hätte. Doch genau in diesen Momenten trennt sich bei einem Roman die Spreu vom Weizen. Denn ein derart vernichtendes Feedback tut zwar weh – aber gleichzeitig ist nichts so wertvoll, vor allem, wenn es mit vielen detaillierten und konstruktiven Anmerkungen versehen ist. Im besten Fall sind solche Rückschläge dann der Schmerz im Wort Wachstumsschmerz.

Damals war ich nicht mit allen Einwänden einverstanden, habe auch längst nicht alles davon übernommen, aber bei vielem gespürt, dass etwas Wahres dran war. Und insgeheim ist ja genau das der Reiz: sich immer wieder mit ehrlicher Kritik auseinanderzusetzen, aus Fehlern zu lernen und den Text besser zu machen.

Jahre später sah ich den Film Whiplash, und auch wenn die These des Leidens für die Kunst übertrieben und viel zu sadistisch dargestellt ist, halte ich einen Kern für wahr. Niemand soll ernsthaft verletzt werden wie im Film, aber es darf im Entstehungsprozess ruhig wehtun und schonungslos kritisiert werden, Hauptsache, die Geschichte kommt voran. Denn beim Schreiben eines Romans geht es neben Leidenschaft und Spaß auch um Besessenheit, um das tausendfache und selbstquälerische Überarbeiten des Textes und darum für das zu brennen, was man tut. Und so gibt es nach dem Schock einer solchen Kritik auch nur einen Gedanken, der wirklich hilft:

Work harder!

Letztlich schrieb ich sieben Jahre an Vom Ende der Einsamkeit, und am Schluss schafften es nur Szenen ins fertige Buch, die für die Geschichte eine Bedeutung haben, die das Wesen der Figuren vertiefen oder später noch mal aufgegriffen werden. Der Roman ist natürlich trotzdem nicht perfekt und hat seine Schwächen, und mir ist völlig klar, wieso er manchen Leuten nicht gefallen würde (meine Figur Robert Beck würde ihn vermutlich ungelesen in die Ecke werfen) und was man daran kritisieren kann. Aber ich weiß durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Text diesmal wenigstens, warum ich alles so gemacht habe.

 

   Teil III – Inspiration

Jede*r hat einen persönlichen Buchgeschmack, und häufig wird das eigene Schreiben von dem beeinflusst, was man selbst gern liest. Das Eintscheidende ist für mich, wie eine Geschichte erzählt wird – die jeweilige Sprache. Zudem haben mir immer Romane gefallen, die in der Tradition des Erzählens am Lagerfeuer stehen, ob Huckleberry Finn, Die Asche meiner Mutter, Jenseits von Eden oder Der Distelfink. Mich fasziniert, wie schnell man am Haken einer starken Geschichte hängt und sich beim Schicksal gutgeschriebener Figuren instinktiv fragt: „Und, wie geht’s weiter?“

Romane, die keine Geschichte haben, keine Entwicklung, keine berührenden Stellen oder Witz, keine mitreißende oder poetische und dem Buch dienende Sprache  – und vor allem keine interessanten Charaktere -; solche Romane habe ich nicht selten weggelegt.

Zugegeben, als Jugendlicher konnte ich mit der für mich damals meist sperrigen deutschen Literatur nicht viel anfangen (bis auf Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W.). An ausländischen Romanen dagegen schätzte ich die Leichtigkeit, mit der sie oft erzählt waren. So schulterten sie auch schwierige Themen, ohne das Gewicht auf den Leser abzuwälzen.

Das Attentat von Harry Mulisch etwa behandelt ein komplexes und überaus schwieriges Thema, doch es ist weder 1000 Seiten lang, noch langatmig. Es braucht nur 184 Seiten, ist spannend und leicht – und trotzdem berührend und tief. Denn das Gewicht entsteht später, beim Nachdenken über die Geschichte und Füllen der von Mulisch gelassenen Lücken. Ein Meisterwerk. Auffallend fand ich auch die klare, auf Manierismen verzichtende Sprache.

Da ich nie auf einer Schreibschule war, wurden solche Romane meine Lehrer*innen. Ich überlegte mir oft, wann mir ein Anfang besonders gefiel oder welche Art von Dialogen und Szenen ich selbst mochte. Aber auch, wann etwas für mich langweilig war und nicht funktionierte – und die Gründe dafür. Vor allem versuchte ich zu studieren, wie meine Lieblingsautor*innen ihre Geschichten erzählten.

Wie Evaristo, McCullers, Strout, Franzen, Steinbeck oder Tolstoi so glaubhafte Charaktere erschaffen, dass sie beim Lesen realer wirken als so mancher Bekannter.

Wie Lispector und Nabokov lustvoll mit der Sprache spielen, während Hemingway bewusst schlicht bleibt.

Wie Hornby, Green, Capote und Zevin in ihren besten Büchern so unwiderstehlich anfangen, dass man sie nicht weglegen kann.

Und wer mal beobachten möchte, welche Kraft eine gut komponierte Geschichte entwickelt, sollte Kindern (und allen anderen!) das erste Kapitel aus Preußlers Krabat vorlesen. Schon nach fünf Minuten sitzen fast alle gespannt da und müssen wissen, wie es weitergeht.

Jeder Autor wird von anderen Autorinnen und Künstlern inspiriert und sucht sich seine Quellen. Und gerade am Anfang sollte man aus ihnen trinken wie ein Verdurstender und lesen, lesen, lesen.

Immer wieder trifft man dabei auch auf Bücher, die das eigene Schreiben prägen oder verändern. Auf John Irving, der mich zu Beginn inspirierte, folgte bei mir Michael Chabon, dessen gewitzter Umgang mit Sprache meine Leidenschaft nach den ersten Rückschlägen neu entfachte. Auch F. Scott Fitzgerald hat mich später stark geprägt, ebenso Carson McCullers, die Göttin der einfühlsam geschilderten Figuren. Und sollte ich irgendwann in der Zukunft etwas Biographisches schreiben, dann hätte mir Jeannette Walls mit ihrem Schloss aus Glas gezeigt, wie es geht.

Von Kazuo Ishiguro – sehr raffiniert und trotzdem ein Verfechter einer klassischen Erzählstruktur mit Anfang, Mittelteil, Ende und nicht selten Twists – habe ich gerade bei Vom Ende der Einsamkeit viel gelernt. Beeindruckend fand ich neben seiner Sprache, wie er in seinem Roman Alles, was wir geben mussten Erinnerungen benutzt, um die Leser*innen ganz nah an seine Figuren zu führen, und zugleich das Entscheidende zwischen den Zeilen stattfinden lässt, wodurch eine eigentümliche Spannung entsteht. Ebenso faszinierte mich, wie er sich bei Was vom Tage übrig blieb Zeit für die Geschichte nimmt. Er spielt sein Blatt nicht sofort aus, sondern wartet damit bis zum Ende – und vertraut auf die Geduld der Leser*innen, ihm bis hierhin zu folgen.

So simpel diese Erkenntnis ist, so sehr überraschte sie mich. Als junger Autor dachte ich tatsächlich immer, ein Roman dürfe nie auf die Bremse treten. Keine Sekunde Pause, immer erzählen, weiter, weiter. Ich hatte Angst, dass die Leser*innen sonst abspringen. Bei Ishiguros Büchern lernte ich, dass es gerade die ruhigen, stillen Stellen waren, die mich beim Lesen am meisten faszinierten, und von denen die Geschichte zum Schluss auch am stärksten profitierte. Entscheidend dafür war aber, dass er als Erzähler immer souverän war, dass seine Sprache so stilsicher und stimmig wirkte, dass man ihm vertraute.

Ein weiteres Buch, das mir als Anfänger entschieden geholfen hat, ist von Stephen King. Ich muss zugeben, dass ich bisher nie einen seiner Romane gelesen habe, aber sein Das Leben und das Schreiben liebe ich. Eine amüsante, oft auch etwas derbe Autobiographie – und vor allem eine motivierende Bedienungsanleitung für angehende Autor*innen.

King beschreibt darin, wie er sich zunächst eine spannende Ausgangssituation ausdenkt. Etwa einen Farmer, der die Gabe hat, das Schicksal eines Menschen voraus zu sehen, wenn er ihm die Hand gibt. Auf einer Wahlveranstaltung schüttelt er schließlich einem Präsidentschaftskandidaten die Hand und erhält in der gleichen Sekunde die Vision, wie dieser Kandidat später als Präsident die Welt vernichten wird. Und nun muss er ihn aufhalten, allein, niemand wird ihm glauben … Obwohl King nicht weiß, wie es am Schluss ausgehen wird, macht er sich ans Schreiben – ihm wird schon etwas einfallen. Mit kindlicher Neugier und erzählerischem Mut bricht er einfach auf.

Was mich an Kings Autobiographie am meisten begeisterte, war jedoch, wie er in der zweiten Hälfte den Leser*innen zeigt, wie er redigiert. Man liest erst eine Szene aus einem noch nicht veröffentlichten Text von ihm und denkt sich: Hm, ganz gut. Kurz darauf folgt die gleiche Szene noch mal, diesmal von King gekürzt und an vielen Stellen verfeinert. Eine unglaubliche Verbesserung. Überhaupt enthielt sein Buch viele praktische Tipps; einer von ihnen war, statt einem Feuerwerk von Adverbien wie „wisperte ich entzückt“ möglichst nur „sagte ich“ zu verwenden. Denn ein Dialog erklärt am besten selbst, wie er intoniert wird, zudem wirkt alles andere schnell amateurhaft … Wenn man das Schreiben nicht an einer Universität lernt oder damit nicht erst als Fünfzigjähriger beginnt – das heißt als jemand, der seinen Wortschatz und seinen Stil Jahrzehnte lang trainieren konnte –, ist man sehr froh über solche einfachen Ratschläge.

Ich kann das Buch von Stephen King nur sehr empfehlen, ebenso „Big Magic“ von Elizabeth Gilbert, „Bei Regen in einem Teich schwimmen“ von George Saunders und die Essays über das Schreiben von Zadie Smith.

Aber auch Serien und Filme können inspirierend sein, sei es durch emotionale Szenen, gutgeschriebene Dialoge oder starke Figurenzeichnung. Über die Wahl der Schnitte bei In the Mood for Love von Wong-Kar Wai habe ich zum Beispiel oft nachgedacht, und momentan schaue ich für eine Coming-of-Age-Geschichte wieder die geliebten Klassiker von John Hughes an.

An Büchern dagegen fasziniert mich bis heute, dass sie sich von allen anderen Medien unterscheiden. Musik, Filme, Serien, Malerei: alles wird – schon fertig – von außen an einen herangetragen, man „konsumiert“ nur noch. Doch wenn man etwas liest, entsteht es in einem selbst. Ein Roman ist nur ein schwarzweißer Bauplan für die Phantasie, die Gebäude aber errichtet der Leser, auch die Farben und Emotionen kommen von ihm. Er ist Regisseur, Kameramann, Casting-Agentur und Schauspieler in einem. Wir können oft gar nicht anders, als die Geschichte mit eigenen Gefühlen anzureichern; ähnelt eine Figur zufällig einem Bekannten, bekommt sie plötzlich auch seine Charaktereigenschaften.

Und so gibt es am Ende siebzig Millionen unterschiedliche Holden Caulfields: jede Leserin hat seinen eigenen. Gäbe es dagegen eine Verfilmung des Fänger im Roggen, wäre es nur ein Holden Caulfield für siebzig Millionen.   

 

   Teil IV – Die Suche nach dem Verlag und wie ich zu Diogenes kam

Die tollste Erzählung nützt allerdings wenig, wenn man keinen Verlag hat; man fühlt sich im Innersten oft wie ein Hochstapler. Folgende Unterhaltung mit Freunden oder Fremden dürfte keinem unveröffentlichten Autor unbekannt sein:

  • „Und, wie kommst du so mit dem Schreiben voran?“
  • „Ganz gut, hab gerade eine neue Fassung fertiggestellt.“
  • „Freut mich! Wann kann man denn mal was von dir lesen, hast du inzwischen einen Verlag?“
  • „Äh, tja, also noch nicht richtig, aber ich …“
  • „Ach so …“

Nach solchen Gesprächen könnte man sich auch gleich einen Zettel mit Loser an die Stirn kleben. Bei Musiker*innen sind die Grenzen fließender, sie können immerhin Konzerte geben und ihre Songs online selbst zum Kaufen und Streamen anbieten. Ein Autor dagegen wird in seinem Beruf meist nur ernstgenommen, wenn er veröffentlicht wurde. Doch diese Hürde ist hoch, denn die Verlagswelt ist auch ein Business.

Später wurde ich zum Beispiel oft gefragt: „Aber dein Cousin ist doch ein erfolgreicher Schriftsteller, konnte er dir da keine Türen öffnen?“

Die Antwort auf solche Fragen ist jedoch immer: nein (mal abgesehen davon, dass ich bei seinem Debüt 2009 ja schon längst selbst veröffentlicht war). Diese Erfahrung hat wohl jeder gemacht, der sich mal für das Buch eines Freundes eingesetzt hat. Man kann höchstens an eine Tür klopfen – etwa den Text der eigenen Agentin geben oder einem Lektor davon vorschwärmen –, aber dann nur noch die Daumen drücken. Denn Verlage bekommen auf diese Art täglich unzählige Manuskripte angepriesen, von Agenturen, Autoren und befreundeten Kollegen. Am Ende zählt immer nur der Text – und seine Chancen auf dem Markt. Mögen die prüfenden Lektoren die Geschichte? Glaubt der Verlag an einen Erfolg und geht er das finanzielle Risiko einer Veröffentlichung ein?

Von diesen Entscheidungen hängen Arbeitsplätze ab, deshalb kann auch das Timing eine Rolle spielen: Als Autorin eines Fantasybuchs für Kinder hatte man – unabhängig von der Qualität des Manuskripts – vor Harry Potter eher schlechte Karten, danach wurden solche Geschichten plötzlich dringend gesucht.

Als ich mit dem Schreiben anfing, dachte ich über diese Dinge jedoch kaum nach. Ich schickte meine Texte einfach an Agenturen, Verlage und Open Mikes, manchmal legte ich auch CDs mit selbstgemachten Soundtracks bei. Zuverlässig flatterten die Absagen ins Haus. In der Regel waren sie formell, selten hatte sich jemand die Mühe gemacht, mir das Gefühl zu geben, ich könne trotzdem etwas. Ich war enttäuscht, aber ich spürte auch, dass ich ohnehin besser werden musste, und das brauchte Zeit. Nicht Wochen oder Monate, sondern Jahre. Für mein Umfeld war das oft schwer zu verstehen. Da ich fürs Schreiben auf ein Studium verzichtet hatte, galt ich als sturer Versager, und meine schäbige Wohnung und die anfangs miesen Nebenjobs halfen auch nicht gerade, das Vertrauen meiner Mitmenschen in mich zu stärken.

Nur bei einem Verlag bewarb ich mich nie: Diogenes. Seit der Lektüre von John Irving war es mein Lieblingsverlag, die Heimat so vieler Autor*innen, die ich bewunderte. Die weißen Cover übten eine fast magische Anziehungskraft auf mich aus. Ich wollte nicht von dort auch noch eine Absage bekommen, also habe ich schon aus Prinzip nie eines meiner Manuskripte nach Zürich geschickt.

Am Fenster meiner Wohnung in Berlin, 2003

Damals erschien ein SPIEGEL-Artikel über das großartige Buch Vincent von Joey Goebel. Darin stand auch, wie liebevoll man Joey im Diogenes-Verlag willkommen geheißen hatte. Ich las es und fühlte mich wie ein Waisenkind von der Straße, das durch ein Fenster sieht, wie eine Familie gemütlich im Warmen zu Abend isst. Der Oliver-Twist-Moment in meinem Autorenleben. Auch einmal dort aufgenommen zu werden, schien so verdammt unrealistisch.

Nach vier Jahren voller Absagen war der Tiefpunkt erreicht. Manche meiner früheren Mitschüler hatten bereits ihr Examen, ich hatte einen Haufen nutzloser Word-Dateien. Der gesellschaftliche Druck, endlich ein sogenanntes „sicheres“ Leben zu führen, war für mich kaum noch auszuhalten. Heute bin ich versucht zu denken: komm, war doch alles halb so wild – aber das wäre schon der Verrat eines gönnerhaften, älteren Idioten, denn mit Anfang zwanzig fühlt man anders.

Damals war ich entschlossen, dieser Außenseiterrolle zu entfliehen und ins Ausland zu ziehen, dort notfalls wieder zu kellnern und nebenher so lange zu schreiben, bis es irgendwann klappte. Sollten sie mich doch alle für einen Verlierer halten. Dazu passte auch gut die letzte Absage, die ich für das Exposé meines Buchs über einen Musiklehrer Ende dreißig bekommen hatte, und die in etwa lautete: „Ein Lehrer in der Midlife-Crisis? Ich weiß nicht. Erzähl doch lieber etwas über dich selbst. Oder lebe erstmal, studiere und schreibe dann vielleicht später noch mal etwas.“ Eine Textprobe wollte die zuständige Lektorin gar nicht erst haben.

Meine letzte Hoffnung war ein Agent, den ich einige Monate zuvor auf einer Veranstaltung kennengelernt hatte. Zwar hatte er mein erstes Buch Spinner nach dem Lesen ebenfalls abgelehnt, da es ihm zu konventionell war, aber immerhin manches daran gemocht. Er hatte mir deshalb versprochen, auch meinen zweiten, etwas ambitionierteren Roman zu lesen, wenn ich ihn fertig hätte: Die Geschichte mit dem Lehrer in der Midlife-Crisis.

Nach seinem Angebot arbeitete ich noch über ein Dreivierteljahr an dem Text und steckte alles hinein, was ich hatte: die ganze Verzweiflung, Angst und Hoffnung. Ich schrieb im wahrsten Sinne um mein Leben. Zwischenzeitlich war das Manuskript 1500 Seiten lang und hieß Becks letztes Jahr, am Ende hatte ich es auf 450 Seiten gekürzt und Becks letzter Sommer getauft.

Ich schickte es dem Agenten und wartete.

Nach einiger Zeit meldete er sich und meinte, er habe es auch noch einer Kollegin gegeben. Okay, dachte ich, das war’s. Denn die wenigen Male, bei denen ich nur knapp abgelehnt worden war, war es immer nach diesem Schema abgelaufen: Jemand aus der Agentur oder dem Verlag teilte mir mit, dass man den Text auch „einem Kollegen“ gegeben habe, der jedoch leider ebenfalls der Ansicht sei, dass es nicht zu einer Veröffentlichung reiche.

An diesem Wochenende beschloss ich, endgültig abzuhauen. Mit fast diebischer Freude stellte ich mir vor, Berlin über Nacht zu verlassen, abzutauchen und mich dann Wochen später von Edinburgh aus (keine Ahnung, wieso ausgerechnet Edinburgh) bei besorgten Freunden und Verwandten zu melden. Ich wollte nur noch die Absage des Agenten abwarten.

Nach dem Wochenende checkte ich alle fünf Minuten meine Mails, aber er meldete sich nicht. Dann klingelte das Handy. Er war dran. Ach, nein, dachte ich. Jetzt ist er auch noch so nett und sagt mir persönlich ab …

Der Moment, als ich begriff, dass mir zum ersten Mal jemand aus dem Literaturbetrieb Vertrauen schenken und mich unter Vertrag nehmen wollte, war so gewaltig und intensiv, dass ich mich kaum noch daran erinnern kann. Ich weiß nur noch, wie ich danach auf die Straße rannte, fast überfahren worden wäre und alle möglichen Leute angerufen habe.

Als mein Agent mich bei einem Kaffee fragte, zu welchem Verlag ich wolle, sagte ich sofort: „Zu Diogenes!“ Doch er schüttelte den Kopf und meinte, das sei leider ziemlich aussichtslos. Ein paar Tage später verstand ich auch, wieso. Ich las ein SPIEGEL-Interview mit Daniel Keel, dem inzwischen verstorbenen Gründer und Verleger von Diogenes. Er sprach darin von Fellini und Highsmith und erwähnte, dass jährlich dreitausend Manuskripte im Verlag einträfen, und dass man nur alle drei Jahre einen neuen Autor nehmen würde. Also nur alle neuntausend Manuskripte, dachte ich. Und ausgerechnet dort hatte ich hingewollt …

Ich vergaß meine Träume und beschäftigte mich mit kleinen Berliner Verlagen. Noch immer schien es ja unwirklich, überhaupt veröffentlicht zu werden.

Es verging eine Woche, dann meldete sich mein Agent wieder. Er klang überrascht, aber sehr freudig. „Etwas Unglaubliches ist gerade passiert!“

„Was denn?“, wisperte ich entzückt fragte ich.

„Diogenes hat sich gemeldet. Daniel Keel ruft dich gleich an.“

„Wie, Daniel Keel? Der Daniel Keel aus dem SPIEGEL-Interview?“

„Ja, genau.“

„Aber wieso ruft er an?“

Ich saß in meinem Büro (inzwischen hatte ich einen anständigen Nebenjob) und starrte auf mein Handy. Immer wieder stand ich auf und lief umher. Es vergingen endlose Minuten. Dann läutete es, Vorwahl +4144. Als Halbschweizer wusste ich, dass es Zürich war. Meine Gedanken rasten: Irving, neuntausend Manuskripte, Fellini. Ich hob ab.

Am anderen Ende der Leitung hörte ich, wie Herr Keel mit seiner leisen Stimme fragte: „Hallo, sind Sie Benedict Wells?“

„Ja.“ Ich zitterte.

Er machte eine Pause, dann sagte er so langsam, dass sich jedes einzelne der fünf Worte in mir einbrannte: „Ich möchte Ihr Buch machen.“

Nach dem Telefonat schwankte ich und konnte kaum atmen, taub vor Glück. Abends saß ich in meinem Zimmer und weinte.

In den folgenden Wochen hatte ich ein unerwartetes Problem. Ich konnte schlicht nicht begreifen, dass Diogenes mich wollte, dass ich jetzt irgendwie dazugehörte, dass mein Manuskript in das weiße Gewand gesteckt und ein Jahr später veröffentlicht werden sollte. Als wäre man als Jugendlicher aus der Kreisliga zum FC Barcelona gewechselt und hätte damit schon alle Karriereziele erreicht, noch bevor es überhaupt richtig losgegangen war. Ständig rechnete ich damit, dass sich alles nur als Streich entpuppte und der Traum wieder in sich zusammenfiel.

Aber es war einfach zu schön, um nicht wahr zu sein.

Im Dezember 2007 kam dann der Moment, auf den ich gewartet hatte. Ich fuhr nach Zürich, checkte im Hotel ein und besuchte den Verlag. Von meinen ersten Tagen bei Diogenes weiß ich noch alles. Die tolle, stundenlange Unterhaltung mit Herrn Keel in seinem Büro. Wie mir danach die verschiedenen Abteilungen gezeigt wurden, und die liebevoll-neugierige Atmosphäre im Haus. Das Abendessen mit den Diogenes-Mitarbeiter*innen, bei dem die Kellnerin mich fragte, ob ich schon achtzehn sei und Wein trinken dürfe. Natürlich auch die Wand im Bücherlager, auf der alle Autor*innen unterschrieben und erstaunlich viele noch eine Katze dazu gemalt hatten. Oder wie mich der Co-Verleger Ruedi Bettschart beim Dinner nach der Vertreterkonferenz für einen jungen Ober hielt und eine Bestellung aufgeben wollte.

Am Stärksten ist jedoch die Erinnerung daran, wie mich meine Lektorin kurz nach meiner Ankunft im Hotel abholte. Ich wartete in der Lobby, und wieder kam mir die Beschreibung von Joey Goebels erstem Tag im Verlag in den Sinn, die ich Jahre zuvor so wehmütig gelesen hatte.

Als meine Lektorin dann eintraf und mich sah, fragte sie sich, was der Teenager hier wolle und wo Benedict Wells abgeblieben sei. Nachdem ich sie überzeugt hatte, dass ich es war, begleitete sie mich zum Verlag. Wir überquerten eine Kreuzung, bogen in die Sprecherstraße ein und standen vor dem Haus mit der Nummer 8. An der dunkelgrünen Eingangstür hing ein goldenes Schild, auf dem Diogenes Verlag eingraviert war. Ich starrte es ehrfürchtig an und machte ein Foto davon, und als ich näher trat, ging die Tür automatisch nach innen auf.

Diesen Moment werde ich nie vergessen, nie, nie, nie.

Am Ende verdanke ich diese Erinnerung, wie so vieles Schönes, was mir in den letzten Jahren als Autor widerfahren ist, einer ziemlichen Portion Glück – und den wenigen Menschen, die von Beginn an mich geglaubt haben und für mich da waren. Die mir in den ersten Jahren Mut zusprachen, wenn es schlecht lief, die konstruktiv kritisch und ehrlich mit mir waren oder die wie später mein Agent und meine Lektorin etwas in meinen Texten sahen und sich für sie einsetzten. Denn gerade am Anfang sind es nie viele Freunde, Bekannte oder Verwandte, die sich mit dir auf den Weg machen und dich bei solch einem unrealistischen Traum aktiv unterstützen.

Und jeder einzelne von ihnen ist unverzichtbar.

 

   Teil V  – Praktische Hinweise für die Suche nach einem Verlag

Wäre ich noch mal ein Autor Anfang zwanzig auf Verlagssuche, würde ich online nach Tipps schauen: da findet man vieles, von Nachwuchsstipendien bis zu «Open Mics». Sehr nützlich ist auch das von Sandra Uschtrin herausgegebene Handbuch für Autorinnen und Autoren. Darin stehen alle Verlage und Agenturen und wie sie die Manuskripte wollen. Parallel würde ich mich im Bekanntenkreis umhören, ob jemand direkte Kontakte in die Literaturbranche hat.

Wobei ich mich heute zuerst an eine Agentur wenden würde. So hat man einen Fürsprecher und landet nicht auf dem Stapel unverlangt eingesandter Manuskripte, der von den Verlagslektoraten oft eher hastig abgearbeitet wird. Durch eine Agentur ist schon mal jemand in Vorleistung gegangen, so dass viele Verlage neugierig sind oder sich zumindest mehr Zeit bei der Sichtung des Textes nehmen. Auch bei Verhandlungen kann dieser Schritt von Vorteil sein. Der Haken: Man zahlt im Erfolgsfall eine Provision, in der Regel fünfzehn Prozent.

Bewerben würde ich mich mit einem Text über mich und mein Schreiben (halbe Seite), einem Exposé, das neugierig auf die Geschichte macht, aber noch nicht das Ende verrät (eine Seite) sowie einer Leseprobe, am besten der Anfang (zwanzig Seiten). Zudem würde ich studieren, wie Bücher gestaltet sind. Ein durch Absätze aufgelockertes Schriftbild mit Zeilenabstand ist wichtig, denn niemand freut sich auf ganzseitige Textblöcke. Oft verwendet wird in gedruckten Romanen die Schrift Times New Roman, Größe 12, dazu eingerückte Absätze und Dialoge. Macht man es ähnlich, sieht der Text professioneller aus; spielt die eigene Mannschaft nicht in Freizeitkleidung, sondern in Trikots.

Doch wo immer man sich bewirbt, ich würde zuvor alles, wirklich alles für den Text tun, was möglich ist. Ihn strengen Testleser*innen geben und bis zum Umfallen daran feilen, im Zweifel lieber dreimal zu oft als einmal zu wenig. Nicht nur, weil Schlampigkeiten und Fehler unprofessionell wirken. Sondern vor allem, weil Lektorate und Agenturen unzählige Manuskripte angeboten bekommen, also viel mehr lesen als man selbst. Sie haben ein gutes Sensorium dafür, wie reif eine Geschichte ist. Ob sie in Wahrheit erst zu vierzig Prozent fertig ist, während der Autor glaubt, sein Text wäre schon bei neunzig Prozent (und es zählt der erste Eindruck – greift man als Kundin in der Buchhandlung nach einem Roman, gibt man ihm in der Regel auch nur wenige Seiten, um zu überzeugen).

Das Wichtigste ist jedoch, durchzuhalten und nicht aufzugeben. Lektoren können sich irren, ebenso Agentinnen. William Goldings weltberühmter Roman Herr der Fliegen, später mit dem Nobelpreis ausgezeichnet und bis heute unerreicht spannend, wurde zunächst von mehr als zwanzig Verlagen zurückgeschickt. Eine Agentur sagte ihm mit den Worten ab: „Überflüssig und langweilig. Ohne Sinn.“  Und auch Stephen King und Joanne K. Rowling – sie verkauften zusammen über eine Milliarde Bücher – haben schon tröstliche Geschichten darüber erzählt, wie häufig sie zuvor abgelehnt wurden oder wie lang und schwierig der Weg bis zur Veröffentlichung war.

Man darf ruhig verzweifeln, man muss nur weitermachen und versuchen, den Text zu verbessern. Auf diese Weise kann man das Glück zwar leider auch nicht erzwingen – aber man ist immer noch da, falls es dann doch mal irgendwann auftauchen sollte. Oder anders gesagt: Es gibt keine Garantie, dass man es schafft, wenn man alles gibt. Aber man schafft es oft nur, wenn man alles gibt.

Und am Ende ist es einfach das Schönste, aus dem Nichts Figuren und Welten zu erschaffen. Ich wollte immer wissen, wie die Geschichte aussieht, wenn sie mal fertig ist, deshalb habe ich in schwierigen Momenten nicht aufgehört … – Du bist deprimiert und unsicher, dann öffnes du den Laptop oder das Notizbuch und tauchst in die Welt des Romans ein, und für eine Weile sind alle Absagen und Ängste vergessen. Denn das Gegenteil von Zweifeln und Angst ist die Lust am Erzählen.