Dieser Text stammt von 2025. Eine Version auf Englisch gibt es hier.
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Vor knapp hundert Jahren starb in Deutschland eine Demokratie. Die Pointe daran: Die Partei, die sie auflöste und durch eine Diktatur ersetzte, war demokratisch gewählt. Dabei hatte sie nur wenige Jahre vor ihrer Machtergreifung gerade mal 2,6 Prozent der Stimmen geholt. Ihre Reaktion auf diese Niederlage? Aus Angst, das Bürgertum weiterhin zu verschrecken, änderte sie bewusst ihren Kurs – und hielt sich fortan mit antisemitischer Propaganda erst mal zurück. Stattdessen setzte die Partei auf Themen wie Außenpolitik und machte auf den Straßen mobil, wo sie zunehmend Terror und Angst verbreitete. Das funktionierte, vor allem von männlichen Jugendlichen erhielt die Partei verstärkt Zulauf. Nur reichte das noch nicht.
Dann kam eine große, weltweite Wirtschaftskrise – und mit den zusätzlichen Nöten und Sorgen der Menschen gelang der Aufstieg.
Ein Merkmal der Partei war, dass sie die Macht der Medien und der Propaganda geschickter nutzte als die anderen. Ebenso gut beherrschte sie das Spiel mit ihren unterschiedlichen Wählergruppen. Der Großindustrie und dem Kapital erzählte sie etwas völlig anderes als den Bauernverbänden und Arbeitern. So konnten die einen sich einreden, die Partei wäre doch gar nicht so schlimm und gemäßigter als behauptet, während andere in ihr endlich das gewünschte Ventil für ihre Wut, ihre Unsicherheit und den angestauten Frust fanden. Nur eines war die Partei nach außen für alle klar ersichtlich: Nationalistisch.
Das Ergebnis: Nicht mal fünf Jahre nach dem Wahldesaster mit 2,6 Prozent übernahm die NSDAP im Januar 1933 in Deutschland die Macht. Nun war auch die Großindustrie eifrig mit Spenden bei der Hand, während die vormaligen Regierenden noch immer glaubten, man könne die Nazis durch politische Einbindung „zähmen“. Der bisherige Reichskanzler von Papen war sich sogar sicher, Hitler in die Ecke drängen zu können, „dass er quietscht“ …
Beschäftigt man sich mit den Fakten der damaligen Zeit, fällt auf: Obwohl die NSDAP nach der Weltwirtschaftskrise immensen Zulauf hatte und vom Unmut der Menschen so stark profitieren konnte wie kaum eine andere Partei, waren es bei freien Wahlen nie mehr als 37,3 Prozent im Juli 1932. Im November jenes Jahres flaute das Ergebnis bereits auf 33,1 Prozent der Stimmen ab.
Das ist noch immer erschreckend viel, aber es zeigt auch, dass selbst eine anfangs veritable Mehrheit von 63-67 Prozent (auch wenn nicht alle davon demokratisch dachten) nicht ausreichte, um das Land vor den finstersten zwölf Jahren seiner Geschichte zu bewahren. Sondern, dass diese Mehrheit zu großen Teilen und bis auf wenige Ausnahmen versagte; sie lief mit, relativierte oder harrte aus, sie sah nur zu oder schaute weg, bis es zu spät war. Am Ende starben sechzig Millionen Menschen im von den Nazis verursachten Zweiten Weltkrieg. Darunter sechs Millionen Jüdinnen und Juden, die auf eine nie dagewesene Weise in Konzentrationslager deportiert und ermordet wurden.
Dies ist die Schuld und die Geschichte dieses Landes, das sich achtzig Jahre später anschickt, erneut eine rechtsradikale und nationalistische Kraft in seine Regierungen zu wählen.
Auch diesmal gibt es mit der AfD eine Partei, die das Spiel der (nun digitalen) Medien besser beherrscht als die anderen. Deren bisherige Jugendorganisation gesichert rechtsextremistisch ist, die starken Zulauf durch männliche Teenager erhält und diese auch bewusst anspricht. Die ihren Wählergruppen Unterschiedliches erzählt; hier gemäßigt und scheinbar besonnen auftritt, dort radikal und forsch. Die von Remigration redet, statt von Deportation, und sich mit antisemitischen Äußerungen zurückhält, um niemanden aus dem bürgerlichen Milieu zu verschrecken. Und die trotzdem immer wieder ihr wahres Gesicht zeigt: Ob hinter verschlossenen Türen wie beim dokumentierten Potsdamer Treffen – oder wenn mit Björn Höcke einer ihrer erfolgreichsten Politiker sich in seinem Buch darüber auslässt, bei Übernahme der Macht mit „wohltemperierter Grausamkeit“ vorzugehen.
Ich möchte an dieser Stelle eine Sache laut aussprechen: Ich traue der AfD Schlimmes zu, sollte sie tatsächlich an die Regierung kommen und politische Gestaltungsmacht erhalten. Und ich glaube, je nach Machtfülle könnte sie sich auf eine undemokratische, rechtsextreme Weise entwickeln, die selbst manche ihrer Mitglieder momentan nicht für möglich halten – während andere sie herbeisehnen.
Und ebenso laut möchte ich sagen: Angesichts der Geschichte Deutschlands – aber auch ganz unabhängig davon – ist es unsere gemeinsame Aufgabe, uns entschlossen gegen Rassismus, Hass auf Muslime und Antisemitismus einzusetzen und dafür zu sorgen, dass sich Jüdinnen und Juden hier sicher fühlen können; ist es unsere Verantwortung, dass in diesem Land nie wieder eine rechte nationalistische Partei an die Macht kommt!
Schauen wir deshalb nicht weg, sondern blicken wir noch mal ganz bewusst in den Abgrund unserer Geschichte: Auf das Morden von damals und die Menschen, deren Leben auch durch unsere Vorfahren ausgelöscht wurden; auf das bis heute anhaltende Leid der Opferfamilien; auf Werke wie Schindlers Liste und Der Reisende, die Worte in Anne Franks Tagebuch oder Lieder wie Georg Kreislers Weg zur Arbeit. Und dann denken wir an unser Gewissen, unser Verantwortungsgefühl, unseren Anstand und daran, wie man heute mit dieser Vergangenheit umgehen sollte – und blicken auf das Interview, das die AfD-Vorsitzende Alice Weidel kürzlich gab. Und in dem sie – ohne jede Differenzierung – behauptete, Adolf Hitler wäre ein „Kommunist“ gewesen.
Ich denke, in dieser plumpen Absolutheit gab es lange keine krassere Falschaussage einer deutschen Spitzenpolitikerin, eine solch zynische Form der Geschichtsumschreibung. Und das nicht nur, weil die Nazis einst Jagd auf Kommunisten machten und unzählige von ihnen verhafteten und ermordeten. (Einordnende Artikel gibt es hier und hier, eine exzellente Analyse der Machtübernahme der NSDAP hier). Noch vor wenigen Jahren hätte man nach so einer Äußerung vermutlich aus der Politik zurücktreten müssen. Längst ist die Gesellschaft jedoch derart abgestumpft, dass Alice Weidel danach einstimmig zur Kanzlerkandidatin ihrer Partei gewählt wurde – und weiter geht‘s. So weit ist der Diskurs durch die AfD inzwischen verschoben und vergiftet worden, während die sogenannten Brandmauern längst bröckeln. Umso wichtiger sind die anstehenden Neuwahlen. Sie sind noch immer die beste Möglichkeit in einer Demokratie, für seine Werte einzustehen – und eine Partei wie die AfD in die Schranken zu weisen, die vom Verfassungsschutz bereits in mehreren Bundesländern als gesichert rechtsextrem eingestuft wurde.
Normalerweise könnte man es bei diesem Appell belassen, doch die heutige Welt ist leider komplexer. Und so sollte man auch einen Blick auf den Rahmen werfen, in dem Weidel ihre Unwahrheiten verbreiten durfte: Auf der Plattform X und dem persönlichen Kanal von Elon Musk. Dem mit Abstand reichsten Menschen der Erde, dessen Macht längst beispiellos groß ist; von seinem Imperium um Tesla, Raumfahrtprogrammen, AI-Firmen und der Kontrolle von Twitter/X bis hin zu seinem mutmaßlich direkten Kontakt zu Putin. Mit seinen unbegrenzt wirkenden Möglichkeiten, seiner radikalen Agenda und all seinen Satelliten hat Musk das Potenzial zum zukünftigen Bond-Bösewicht; nur dass wir keinen James Bond haben. In ihrem Talk behaupteten er und Weidel immer wieder falsche „Tatsachen“, widersprochen wurde keiner davon. Überhaupt hat man seit Trumps Ära der „alternativen Fakten“ das Gefühl, dass Wahrheit und Wirklichkeit der Boden entzogen wird. Vielleicht verlieren sie in Zeiten von manipulierten Bildern, Deepfake-Videos, KI-Bots und rechtem Getrolle aber auch einfach an Wert.
Das Problem daran: Wenn die Menschen ohnehin niemandem mehr trauen – dann misstrauen sie umgekehrt auch keiner Seite stärker als der anderen. Dann besteht für viele kein Unterschied mehr zwischen korrekt und unwahr, Verschwörungmythen und Fakten; zwischen demokratischen Parteien und solchen, die andere Ziele verfolgen. Oder zwischen einem sexistischen, rassistischen und strafrechtlich verurteilten Verbrecher und Lügner wie Trump und jemandem, der noch eine gewisse Form von Anstand und Integrität hat.
Als Elon Musk Twitter übernahm, feuerte er als Erstes die Mitarbeitenden, die Hassreden und Fake News entfernen sollten, danach baute er die Plattform zu einem rechten Desinformationsorgan um. Daneben unterstützt er nicht nur Trump oder behauptet, nur die AfD könne Deutschland retten, er mischt sich zudem in die Politik weiterer Länder wie Italien, Brasilien, Spanien und England ein – und umgarnt auch dort stets die Rechten, teils mit gewaltigen Spenden; von seiner faschistischen Geste bei Trumps Amtseinführung ganz zu schweigen. Seinen Fans schrieb Musk auf X: „Ihr seid jetzt die Medien“, seine eigenen Posts kann er dort beliebig priorisieren. Seit Musk Twitter gekauft hat, steigen die Nutzerzahlen stetig an – bis heute. Ich verstehe, dass viele Menschen anfangs auf der Plattform blieben, um dort ein Zeichen für Wahrheit und Fakten zu setzen. Ich fürchte nur, am Ende erreichen sie damit das Gegenteil: Sie stützen und legitimieren durch ihr Bleiben schlicht ein weltweites Werkzeug der Rechtsradikalen. Und dazu einen Eigentümer, der inzwischen maximal unberechenbar wirkt.
Und Musk ist nicht allein: Die Washington Post durfte allem Anschein nach ihre Wahlempfehlung für Kamala Harris nicht drucken, weil ihr Eigentümer – der Amazon-Gründer Jeff Bezos –, es untersagte. Mark Zuckerberg, dem Facebook, WhatsApp und Instagram gehören, beschloss, dass auf seinen Plattformen nicht mehr kontrolliert wird, ob in einem Post Fakten oder Lügen verbreitet werden. Eine Entscheidung, die das Tor für Fake News und rechte Hetze weiter aufstieß.
Wo man auch hinblickt, verbünden sich gerade große Tech-Firmen auf verhängnisvolle Weise mit rechter Politik und reaktionären Werten. Was das für die Zukunft bedeuten könnte, ist beängstigend; man stelle sich vor, es gäbe bei dieser Ausgangslage noch mal eine Weltwirtschaftskrise oder Not wie vor hundert Jahren, die alles eskalieren lässt. Damals schalteten die Nazis nach ihrer Machtübernahme alle Medien gleich und kontrollierten so Informationen und Propaganda. Heute schützt uns das Grundgesetz davor – doch in unserer digitalen Welt finden sich dafür andere Wege.
So hätte ein von Tech-Milliardären unterstütztes rechtsradikales Regime in naher Zukunft immense Möglichkeiten: Lückenlose Überwachung wäre durch Satelliten, Handytracker und Co. ein Kinderspiel, dank Künstlicher Intelligenz ließen sich zudem viele Entscheidungen eines Menschen vorhersagen. Und politische Gegner wären leicht auszuschalten. Man müsste gar nicht mehr die Medien gleichschalten, man könnte einfach unerwünschte Kanäle kapern bzw. abstellen – oder täuschend echte Videos mit falschen Ereignissen auf den eigenen Plattformen posten, bis eine störende Person/Partei/Zeitung erledigt wäre. Umgekehrt ließe sich jede Lüge über das eigene Tun auf die gleiche Art „beweisen“ und verbreiten, bis die abgestumpfte, von der Wahrheit schon längst entwöhnte Mehrheit es glaubt.
Ich bin sicher nicht der Einzige, dem bei solchen Szenarien Dystopien wie 1984 in den Sinn kommen. George Orwell schrieb den Roman kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, und tatsächlich erwies sich vieles darin als prophetisch; Begriffe wie „Soziale Medien“ oder „Alternative Fakten“ könnten direkt aus dem Buch stammen, ebenso die Umdeutung Hitlers zum Kommunisten. Die Agenda von vielen der weltweit reichsten Männer wiederum lässt mich an Margret Atwoods Klassiker Der Report der Magd und den totalitären Staat Gilead denken, in dem Frauen unterdrückt werden (so äußerte etwa Mark Zuckerberg erst kürzlich den Wunsch nach „mehr männlicher Energie“ in Unternehmen). Denn obwohl die Rechten gern Begriffe wie „Freiheit“ verwenden, fürchten sie diese in Wahrheit genauso wie freies Denken, das immer auch einen Zweifel beeinhaltet; nicht zuletzt an sich selbst. Sie wollen keine komplexen Überlegungen, sondern simple Parolen. Und sie wollen erst recht keine offene, freie Welt mit vielfältigen Meinungen, modernen Lebensentwürfen und echter Gleichberechtigung, sondern einen reaktionären, patriarchalen Keller, in den sie die Menschen sperren können. Was die rechte Seite eint, ist deshalb ihr Hass auf eine liberale Demokratie und alles Alternative, Diverse und in jeglichem Sinn Andersartige. Und genauso eint sie ihr toxisches Männlichkeitsbild und eine oft stille oder laute Verachtung von Frauen.
Lange ermutigte mich der Gedanke, dass junge Menschen die Welt verbessern werden. Doch betrachtet man aktuelle Umfragen und Wahlergebnisse, wählen auch sie zunehmend rechts. Kein Wunder, ist es doch für Eltern in Zeiten von Smartphones fast unmöglich geworden, die Informationsquellen ihrer Kinder zu überblicken oder gar zu filtern. Stattdessen gibt es in fast jedem Land das gleiche digitale Angebot aus einem bewusst an junge Männer gerichteten Gelaber von Antifeministen wie Andrew Tate; aus Bots und Trollen auf Social Media; aus Musks manipulierender Einmischung und der rechten Desinformationsagenda von Politikern wie Trump und Putin. Früher hätten sie ihre Lügen in Medien wie Zeit, Spiegel oder der Tagesschau verbreiten müssen und waren dadurch begrenzt. Heute reicht es bereits, gewisse soziale Netzwerke zu kontrollieren, um weltweit Einfluss zu nehmen – und ungebremst Unwahrheiten zu verbreiten, wie Weidel es vormachte. Umso dringlicher müssen wir endlich vor den Lügen in den sozialen Medien und auf Plattformen wie X geschützt werden. Doch wie es scheint, fehlen unserer Demokratie und der EU dafür die Konzepte oder die Mittel. Und die Zeit rennt davon.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir es am Ende nicht schaffen. Dass wir entweder auch hier bei uns wieder Kriege haben oder in eine technologisch-rechte Autokratie abdriften. Dann überlege ich, was noch Hoffnung macht. Etwa, wie viele vor einem Jahr auf die Straße gingen, um gegen Rechts und für Demokratie und Vielfalt zu protestieren. Die um Zuversicht ringenden Worte von anderen (wie in diesem Gedicht von Loryn Brantz). Oder dass es unzählige gute Menschen mit sozialem Gewissen und Anstand gibt, die etwas ändern können und es vielleicht nur noch nicht wissen. So, wie nach dem Zweiten Weltkrieg viele Personen in die Politik gingen oder ihre Stimme erhoben, die das in einfacheren Zeiten eher nicht getan hätten, als der Rückzug ins Private noch möglich schien: Weil es ein Zeichen von Intelligenz und Empathie ist, normalerweise keine Macht anzustreben; aber auch eines, in der Not zu helfen und Verantwortung zu übernehmen.
Und mir macht Hoffnung, dass die Zukunft für uns Menschen unberechenbar ist; dass nichts von dem oben Beschriebenen eintreten muss, sondern es noch immer schnell in andere Richtungen gehen kann. So haben inzwischen erste Institutionen X verlassen, und auch in der Tech-Welt gibt es Ausnahmen; etwa die Seite Wikipedia, die nicht verkauft wurde und nach wie vor keine Werbung schaltet, auf der in Deutschland Behauptungen durch zuverlässige Quellen bewiesen werden müssen – und die keine rechte Agenda hat (nicht verwunderlich, dass Musk kürzlich dazu aufrief, Wikipedia nicht mehr mit Spenden zu unterstützen). Und wer weiß, vielleicht kommen irgendwann doch noch eine App und ein Trend, die alles unerwartet ins Positive verkehren. Oder Gesetze, die uns und die inzwischen so kostbar gewordene Wahrheit schützen, bevor es endgültig zu spät ist.
Und falls nicht? Dann bleibt zumindest der störrische Restglaube, den sich auch die Figur Winston aus Orwells 1984 lange bewahrt. Er wird verhört und gefoltert, ihm wird alles genommen, sein Widerstand scheint aussichtslos. Doch bevor sein Wille am Schluss tatsächlich gebrochen wird, glaubt Winston trotzig an den Untergang des Überwachungsregimes um den Big Brother. Als er unter Folter gefragt wird, wieso er das tut, hat er darauf erst keine Antwort. Dann sagt er: „Etwas wird euch einen Strich durch die Rechnung machen. Das Leben wird euch einen Strich durch die Rechnung machen.“
Es ist Januar 2025, auf den Straßen trinken die Menschen Kaffee und tippen in ihre Smartphones. Nicht weit von hier herrschen Krieg und Leid, das Klima steuert ungebremst auf eine Katastrophe zu, der Ausblick auf eine weitere digitale und rechte Verzahnung ist düster. Das Endspiel um die Zukunft hat begonnen, und wir liegen zurück. Aber noch ist es nicht vorbei.
Das ist der Stand der Dinge.
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