Im neuen Buch erwähne ich an einer Stelle, dass mein Vater bis kurz vor seinem Tod noch an seinem „Tagebuch eines Erfolglosen“ schrieb. Es wäre darin um die spektakulärsten Misserfolge seiner Firma gegangen; etwa sein vergeblicher Versuch, die Telekom bei Auslandsgesprächen auszubooten, wie er der Cognakkönig von Europa werden wollte, Hirschgeweihe aus China importierte, dem Geheimnis der Gingkobäume auf der Spur war und ein Taxiunternehmen hatte. Aber auch darum, wie er in diesem Chaos aus beruflichem Schlingern, einer Gläubigerschar und abgestelltem Strom plötzlich die Aufgabe erhielt, sich nach dem Ausfall der Mutter um seine zwei Kinder zu kümmern – und damit zunächst überfordert war … Ein für mich oft hinreißendes und lustiges, manchmal berührendes Fragment, das auch den Sound der Neunziger einfängt. Leider konnte er es nicht mehr fertigstellen.
Ich erwähne das, weil ich meinen Vater sehr geliebt habe, so wie er meine Schwester und mich. Man kann sich nicht vorstellen, wie schön es war, bei ihm im von tausend Sachen überquellenden Zimmer zu sitzen, Tee zu trinken, stundenlang über alles mögliche zu reden und zu lachen oder nachts Filme zu sehen. Wie inspirierend er oft war, wie geistreich, witzig und voller Geschichten. Er war das Gegenteil von Langeweile, nichts war ihm zu tief und nichts zu trivial, noch mit achtzig Jahren war er interessiert an allem von „Fleabag“ bis Philosophie und Zeitgeschichte, und er ermutigte mich mein Leben lang.
Zugleich gehörten das teils epische Chaos, die Unordnung und sein Unverhältnis zu Geld nun mal zu ihm, das wussten alle, die ihn kannten und liebten. Das alles war keine Kleinigkeit, sondern ein wesentliches Charaktermerkmal, dessen humorvolle Verdrängung bzw. sympathisch-unorthodoxe Handhabung ihn ja gerade auch als Mensch ausgemacht hat. Ein Mensch, der sich lieber auf andere Dinge konzentrierte und seine Umgebung immer wieder beseelte und leuchten ließ – wobei es dadurch vor allem an uns Kindern lag, dies alles auszugleichen und manches auch auszuhalten. Von den Problemen nicht zu erzählen, hätte aus ihm eine zweidimensionale Figur gemacht, die ihm nicht ansatzweise gerecht geworden wäre (und die ihm selbst nicht gefallen hätte!).
Beides ist wahr, das Schwierige und das Liebevolle, und diese Ambivalenz zuzulassen, ist für mich eine Aufgabe von Literatur.
All das sei gesagt, weil ich weiß, dass es die Idee gibt, dass man über so etwas gar nicht spricht oder schreibt. Doch ich kann von meinem Aufwachsen nicht aufrichtig berichten, ohne zumindest ein paar Realitäten zu benennen. Auch in der Hoffnung, dass sich vielleicht noch andere Menschen darin erkennen, so, wie es Jeannette Walls mit ihrem warmhezigen „Schloss aus Glas“ bei mir gelang. Und wenn es einen Menschen gibt, der von Verschweigen oder Beschönigen ohnehin nichts hielt, dann war es mein Vater. Zum einen schrieb er auf die genau gleiche Weise einst u.a. über seine eigene Mutter und die Nöte seines zumeist elternlosen Aufwachsens. Dabei machte er auch aus sich selbst eine literarische Figur, deren Reise nun von seinem Sohn weitererzählt wurde; denn das heitere Verdrängen, das zum Chaos führte und das ich schildere, war letzlich der einzig ihm mögliche Umgang mit dem Schwierigem und Dunklem in seiner Biographie.
Zum anderen schrieb ich „Die Geschichten in uns“ noch zu seinen Lebzeiten und las es ihm auch einmal komplett vor. Er fand die Stellen über seine chaotischen Seiten alle angemessen und musste manchmal sogar lachen – arbeitete er doch parallel selbst an dem eingangs erwähnten autobiographischem Buch über seine Misserfolge. Ich lektorierte es mit ihm zusammen und änderte es mit seiner Zustimmung auch ins Präsens. Vor seinem Tod versprach ich ihm, die fertigen Kapitel daraus irgendwann auf eine Homepage zu stellen, zusammen mit seinen schönsten Fotos – er war Zeit seines Lebens ein leidenschaftlicher Fotograf.
Letztlich kann man echten Menschen beim Schreiben nie ganz gerecht werden, weil wir alle unsere eigenen Sichtweisen haben und das Gedächtnis selbst ein Geschichtenerzähler ist. Auch deshalb hatten mein Vater und ich unsere Text gleichzeitig herausbringen wollen, damit beide Sichtweisen vertreten sind. Das hat leider nicht mehr geklappt. Hier dafür seine „Gegendarstellung“; ein kurzer Auszug aus seinem Fragment, den ich – in enger Rücksprache mit meiner Schwester – schon mal vorab veröffentlichten möchte. Denn es ist am Schönsten, ihn selbst zu Wort kommen zu lassen, in seinem eigenen Ton.
(Da der Kontext des restlichen Buchs fehlt, sei jedoch gesagt: Der folgende Text stammt eher vom Anfang und man muss ihn mit einem Lächeln lesen, gerade den letzten Satz; Humor war unser Überleben, aber auch unsere Alltagssprache. Mit der gleichen Ironie, mit der er die Irrwege seiner Firma beschrieb, blickte er auf seine ersten Schritte als alleinerziehender Vater, der zunächst einen Haufen Fehler machte und in die Rolle hineinwachsen musste. Das ist aber nur ein Ausschnitt. Es fehlt das Gegengewicht der späteren Kapitel, in denen dann die Annäherung zwischen uns geschildert worden wäre; die Wärme und sein Herz. Mein Vater hat sich auch durch die Situation mit seinen Kindern wirklich weiterentwickelt und begegnete seinem damaligen Ich mit Selbstkritik, wollte dieses alte Ich aber erst ungeschönt und spielerisch nachzeichnen. Nicht umsonst vergleicht er es mit einer berüchtigten Charles Dickens-Figur.)
Hier also ein autobiographisches Kapitel eines Menschen, dessen Witz und Zuneigung ich schmerzlich vermisse – und das zeigt: Die Geschichten in mir sind manchmal auch die Geschichten in meinem Vater, nur anders erlebt und erzählt …
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Ein unerwarteter Besuch
(Unveröffentlichtes Kapitel aus dem Fragment „Tagebuch eines Erfolglosen“ von Richard von Schirach)
Auch dieser Freitag gestaltet sich zäh. Als ich gegen Abend das Büro verlasse, schwirren noch knapp hundert Anrufe durch meinen Kopf, dazu Kuverts mit nichtbezahlten Rechnungen – Miete! Strom! Telefon!! Internat! Versicherung! – und ihren verheerenden Auswirkungen. Seit sieben Uhr morgens bin ich auf den Beinen gewesen. Nun fahre ich vor Müdigkeit wankend nach Hause, ohne zu ahnen, dass der Tag noch eine besondere Überraschung für mich bereithält.
Zu Hause werfe ich die Jacke auf den Stuhl, schleudere meine Schuhe von mir, ziehe die Hose aus und lass mich auf das ungemachte Bett fallen. Ruhe! Ich erwarte niemand mehr an diesem Abend. Mit dem „hohen C“, die zum Comer See unterwegs war, um eine alte Diva zu interviewen, habe ich noch telefoniert. Wenigstens das beruhigt.
Es vergehen keine zehn Minuten und ich döse ein.
„RRRRing rrring …“
Im Halbschlaf höre ich das Läuten der Türklingel. Ich wehre mich dagegen, es gibt niemand, den ich erwarte oder herbeisehne, ich will und muss mich erholen. Das Läuten hört aber einfach nicht auf.
Schlaftrunken wälze ich mich schließlich aus dem Bett, drücke den Türknopf und warte gähnend auf den vermeintlichen Boten. Ich höre sehr junge fröhliche Stimmen und das Getrappel von Schuhen, welche die Treppe heraufstürmen.
An der Tür stehen zwei voller Erwartung und Ungeduld bebende Zwerge. So scheint es mir jedenfalls. Überraschenderweise steht mein Sohn vor mir, der seinen Freund an der Hand hält. Beide sind sechs Jahre alt. In ihren Augen bebende Freude, ein erwartungsvolles Leben pocht gegen meine Tür und gegen mein Herz. Mein Sohn ist mir eigentlich fremd. Ich habe ihn erst vor drei Monaten zu mir genommen. Seine Mutter hat ihn nach unserer Trennung in die Schweiz mitgenommen, und es gab im Grunde keine andere Lösung, als dass ich ihn nach ihrer Erkrankung, die sie auf Monate in einem Hospital festhielt, wieder zu mir nehmen würde.
Wir haben damals die Kinder geteilt, meine zwölfjährige Tochter war bei mir geblieben und nun habe ich auch ein zweites Kind anvertraut bekommen, zu dem ich erst einmal gar keine Beziehung habe. Mir fiel nichts anderes ein, als auch für ihn ein Internat zu suchen. Es gibt nicht viele Heime für Kinder, die noch die Grundschule besuchen. Zumindest würde jede halbwegs normale Familie Tanten, Großmütter und Geschwister in Bewegung setzen, um ein Kind nicht mit sechs Jahren außer Haus geben zu müssen.
Ich habe nach längerer Suche ein Internat in einem ehemaligen Kloster gefunden. Schon bevor wir das Gebäude betraten, hat sich mein Sohn, der in dumpfer Erwartung ausgeharrt hatte, augenblicklich für dieses Heim entschieden, weil ihm ein dreifarbiges Kätzchen aufgefallen ist, das sich über dem Torbogen sonnte und ihn an glückliche Ferientage in dem Chalet seiner Schweizer Großeltern erinnerte. Dieser erste Eindruck täuschte nicht. Es gibt aufopferungsvolle Lehrer und Erzieher, die sich um diese Verlassenen, Weggegebenen kümmern, die alle Opfer von Scheidungen und Unglücksfällen waren. Nachdem ich ihn dort mit Wäschebündel, Schulranzen und sonstigen Utensilien angemeldet hatte, bekam ich diese kleine Schar zu sehen, die sich da nach dem Mittagessen im Aufenthaltsraum versammelte.
Ein schlichter Raum, abgegriffene Spielzeugkisten, Regale mit zerfledderten Kinderbüchern. Tische und Stühle. Alles drehte sich um das Tischfußballspiel, das eigentlich immer in Betrieb war. Schüchterne, sehnsüchtige, hoffnungs- und erwartungsvolle Kinder. Darunter waren auch einige Hochstapler, die durch Erzählungen über die glänzenden häuslichen Verhältnisse, die Villen und Swimmingpools den Eindruck zu erwecken versuchten, dass es nur ein böser Zufall war, der sie vorübergehend in das Internat verschlagen hatte. Alle wussten auch, dass irgendetwas an dieser Erzählung nicht stimmen konnte; ihre dick aufgetragene Geschichte wirkte auf Anhieb erlogen, aber die Lügengeschichten der anderen Hochstapler waren kaum besser. Die verheißungsvolle Stimmung aber, die man sich da zusammenphantasierte, war auf jeden Fall viel anregender, als die oft so traurigen Wahrheiten, die hinter den einzelnen Schicksalen standen.
„Wie kommt ihr denn hierher!?“ frage ich unwirsch, als die beiden so plötzlich vor mir stehen. Nichts ist vereinbart – warum gibt man Kinder eigentlich in Internate, wenn sie dann doch nach Lust und Laune umherschwirren können und sich wie ein Kamikazeflieger mit einer Sprengladung auf den elterlichen Flugzeugträger werfen.
Kleinlaut und unsicher gibt mein Sohn zu, dass er gegenüber dem Internat behauptet hatte, ich habe den heutigen Besuch erlaubt, und zwar nicht nur für ihn, sondern auch für den pygmäenhaft kleinen Albino, der mit schlohweißem Haar und geweiteten Augen neben ihm steht und mit einer fragenden Bangigkeit im Gesicht zu mir aufblicke, als stünde er wie ein Waisenkind vor dem hartherzigen Mr. Scrooge aus Dickens Weihnachtsgeschichte.
Diese beiden Kinder können mein ganzes Wochenende zugrunde richten. Verblüfft und irritiert über diesen Einbruch in meine Ruhezone rufe ich das Heim an und verlange den Direktor. Gleichzeitig fällt mir ein, dass ich die letzte – oder auch die vorletzte? – Rate noch nicht an das Internat überwiesen habe.
„Ich muss mich darauf verlassen können … usw.“
Der Schulleiter entschuldigt sich daraufhin und will sich ins Auto setzen, um beide Kinder wieder abholen. Ich höre sie fröhlich in der Küche hantieren und besinne mich. Diesem wunderbaren, sehr belasteten Internatsdirektor, dem ich im Grunde so dankbar bin, will ich keine Fahrt mehr abnötigen und lenke ein. Ich bringe es auch nicht über mich die beiden, die so dicht davor sind, eine große Stadt mit Augen und Händen ergreifen zu können, wie zwei Delinquenten zu später Stunde abführen zu lassen. Nein! Ich ergebe mich in mein Schicksal.
Der ungebetene Besuch setzt mir auch deshalb so zu, weil ich nichts, aber auch gar nichts zu Hause habe, was ich anbieten könnte. Ich setze erstmal einen Kessel mit Wasser auf, um Darjeeling Tee zuzubereiten. Schließlich sitze ich im Morgenmantel mit zwei Jungs in der Küche und wir hören zu, wie der Kessel zu summen beginnt.
Dem jungen Besucher schenke ich behutsam ein. Er trinkt den Tee in kleinen Schlucken wie wir alle und erstaunt mich durch die unerwartet höfliche Art, mit der er sich dafür bedankt. Aber mit dem Tee alleine können wir den Abend nicht bestreiten. So viel verstehe selbst ich von Kindererziehung.
Sie haben vor dem Abendessen das Internat verlassen, und obwohl ich mein schmales Wochenendbudget sauber geplant habe, bin ich nun gefordert. Das heißt, ich muss mich anziehen und mit den beiden zu McDonalds gehen. Die Welt der Milchshakes, Colas, Ketchups, Spezialhamburger und der Pommes Portionen erfüllt alle Wünsche.
Hinterher werfen wir noch mit Darts um die Wette auf eine Zielscheibe, die bei mir im Gang hängt, und der Abend endet damit, dass ich für einen aus dem Nest gefallenen kleinen Albino, der mein Herz gerührt hat, versuche, das gemütlichste Bett der Welt herzurichten.
Die Überraschungsbesucher, mit denen ich das Wochenende verbringe, sind abwechselnd vibrierend vor Energie und dann wieder fahrig und unkonzentriert. Sie saugen sich fest an der großen Stadt und sehen tausend Dinge, an denen ich täglich achtlos vorübergehe. Sie scannen mit ihren flinken Augen in Sekundenschnelle endlose Reihen von Turnschuhen und hochbegehrte glitzernde Sammelbildchen und saugen alles ein, Gerüche, Stimmen, Sonderangebote, Farben. Völlig selektiv und schnell setzen sie das Puzzle ihrer Welt zusammen. Sie erinnerten mich dabei an Aliens, die unbekümmert bei der Aneignung der Welt ihren eigenen, bizarren Gesetzen folgen. Und ich bin gerührt, wie anspruchslos und dankbar sie für jede Zuwendung sind.
Ich überstehe diese beiden Tage mithilfe weiterer Pizzas in Pappschachteln, Eis und Fernseherlaubnis. Als ich die beiden direkt zum Zugabteil bringe und in die Arme schließe, habe ich eine Sekunde lang das Gefühl, ein guter Mensch zu sein, und denke gleichzeitig: Auf jeden Fall habe ich nun fünf Tage frei! Jetzt ist das Internat dran. Hurra – ich gebe euch zurück, was ihr mir gesandt habt. Viel Glück!
Mein Gott, wie erschöpfend diese beiden Kinder waren …
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