Dieser Text erschien in der Anthologie Das Spiel meines Lebens. Wieso meine Fanliebe inzwischen erkaltet ist, kann man hier lesen.
–
Als Anhänger des FC Bayern hat man es mitunter nicht leicht. Man steht unter dem Generalverdacht, gar nicht zu wissen, wie sich verlieren anfühlt, und nur ein Erfolgsfan zu sein, kurz: ein verwöhnter Arsch, der sich den Verein bewusst nach Popularität und Siegbilanz ausgesucht hat. Einer, der bei einer Schlägerei auf dem Pausenhof nicht dem schmächtigen Außenseiter die Daumen drücken würde, sondern dem großen, grobschlächtigen Schultyrannen. Deshalb kann man bei Niederlagen auch nicht mit Trost und Schulterklopfern neutraler Fußballbeobachter rechnen, sondern wird meist mit Häme bedacht. Doch das änderte sich nach dem Championsleague-Finale gegen Manchester United im Mai 1999, als alles, was man über die Bayern und ihren Dusel zu wissen glaubte, plötzlich nicht mehr stimmte.
Was der Fachwelt bis heute jedoch unbekannt ist: an diesem dramatischen Spielausgang war einzig und allein eine Coladose schuld.
Aber fangen wir vorne an. Mitte der Neunziger war der FC Bayern noch längst nicht die weltweit operierende Siegmaschine der Jetztzeit, sondern bestenfalls internationales Mittelmaß. Dazu fast wöchentlich neue Schlagzeilen um Matthäus’ Liebesprobleme und seine Fehde mit Klinsmann, um Rehhagels Rauswurf, Scholls freche Sprüche oder Trapattonis Sprachwirrwarr. Von der Boulevardpresse wurde der Verein verächtlich „FC Hollywood“ getauft, allerdings hatte jeder rote Teppich mehr Stars zu bieten. Bei uns auf dem Rasen tummelten sich dagegen Spieler wie Dieter Frey, Oliver Kreuzer, Michael Sternkopf und Markus Schupp, und kaufte man doch mal international ein, dann eher im Discountsegment wie bei Emil Kostadinov, Slawomir Wojciechowski oder Mazinho. Die Kommerzialisierung des Fußballs steckte erst in den Anfängen, und auch finanziell war der Verein den anderen Bundesligisten noch längst nicht enteilt.
Im Gegenteil: Neidvoll blickte man damals als Bayernfan nach Dortmund, wo Stars wie Möller, Riedle, Chapuisat, Kohler, Sammer und César aufliefen. Trainer Hitzfeld verstand es wiederum, diese Ansammlung von Egos bei Laune zu halten, so dass nie Unruhe aufkam. Der Lohn waren zwei Meisterschaften in Folge, und 1997 schließlich die Krönung: Im Finale der Championsleague gewann Dortmund gegen die favorisierte Mannschaft von Juventus Turin den Titel – und das auch noch in München.
Take this, Bayernfans!
Und wie stand ich damals zu all dem? Nach der WM 1994 war bei mir das Fußballfieber ausgebrochen, nun brauchte ich nur noch einen Verein. Aus obigen Gründen fiel meine Wahl auf den BVB, doch da hatte ich die Rechnung ohne meinen besten Freund im Internat gemacht: meinen Zimmernachbarn Alex. Denn der war bereits Dortmundfan und wollte keine Nebenbuhler. Stattdessen war er der Ansicht, dass ich als gebürtiger Münchner Bayernfan sein müsse.
„Vergiss es“, sagte ich ihm immer wieder.
Aber dann kam der zweite Spieltag der Saison 1994/95: Der große FC Bayern verlor mit 1:5 gegen Freiburg. Und irgendwie lag ein Zauber in dieser lächerlich hohen Niederlage. Als die Spieler gedemütigt vom Platz schlichen, bekam ich Mitleid; es war plötzlich „meine“ Mannschaft, „meine“ Verlierer. Nach dem Wochenende zog mein Zimmernachbar mich wie befürchtet mit diesem Spiel auf und erzählte mir genüsslich von der Überlegenheit des BVB (sie hatten parallel 6:1 gegen Köln gewonnen), und danach wollte ich tatsächlich nur noch zwei Dinge: Dass auch seine Dortmunder mal so richtig verlieren würden. Und dass ich ihn beim nächsten Mal selbst mit einem Bayernsieg ärgern konnte.
In diesem Moment wurde ich zum fanatischen Fan, zum „Roten“ , und das in einer Saison, in der wir am Ende nur Sechster wurden. Doch das machte nichts, denn es war eine Entscheidung fürs Leben. Man kann den Beruf wechseln, die Partnerin, den Wohnort, sogar den Glauben. Aber nicht den Verein.
Es folgten turbulente Jahre mit weiteren Boulevardschlagzeilen, dazu die Demütigung durch Kaiserslautern, die als Aufsteiger vor uns Meister wurden. Ein Königsklassen-Triumpf wie der des Rivalen Dortmund schien damals undenkbar. Doch Ende der Neunziger keimte Hoffnung auf. Wunderbare Spieler wie Elber und Lizerazu stießen zu uns, Effenberg wurde als neuer Chef ins Team geholt und der vom BVB verschmähte Hitzfeld als Trainer installiert. Und mit einem Mal war es ruhig beim FC Hollywood. In der Saison 1998/99 folgte dafür teils berauschender Fußball, wir wurden mit fünfzehn Punkten Vorsprung Meister und standen im Pokalfinale. In der Championsleague besiegten wir zweimal hintereinander den FC Barcelona, warfen im Halbfinale das unberechenbare Dynamo Kiew raus und standen nun tatsächlich im Finale. Gegner: Manchester United.
Ich sah das Spiel während eines Italienurlaubs, im Restaurant „Epomeo“ in Forio. Damals war ich fünfzehn und solchen Ereignissen noch schutzlos ausgeliefert. Bei wichtigen Spielen stand ich regelmäßig vor dem Zusammenbruch, weinte bei Niederlagen, sprang bei Siegen wie ein Irrer durchs Zimmer und verließ vor Spielende oft den Raum, weil ich es nicht mehr aushielt. Und nun stand mein Verein zum ersten Mal seit zwölf Jahren und – viel wichtiger – zum ersten Mal in meinem Fanleben im wichtigsten Finale des europäischen Clubfußballs.
Vor dem Spiel machte ich mir große Sorgen. Schon in der Gruppe hatten wir zweimal gegen Manchester gespielt, beide Male nur knappe Unentschieden. Beckhams Flanken waren brandgefährlich, Dwight Yorke und Andy Cole galten als das beste Sturmduo der Welt, und Trainer Ferguson war schon damals eine Legende. Wie wir hatte auch Manchester nach einer fabelhaften Saison noch Chancen auf das Triple, und wie wir mussten auch sie im Finale auf wichtige Spieler verzichten. Bei uns fehlte u.a. Elber verletzt, bei ManU waren Paul Scholes und Kapitän Roy Keane gelbgesperrt.
Das Spiel fand im Camp Nou in Barcelona statt. Manchester spielte in bekanntem Rot, Bayern in den silbernen Championsleague-Trikots. Die Hymne ertönte, Alex Zickler blickte starr in die Kamera, Effenberg kaute Kaugummi, Kahn hatte den Blick des Todes aufgesetzt. Und ich war schon jetzt völlig am Ende und blickte nervös auf die anderen Bayernfans im Restaurant. Es war klar, dass ich dringend Beruhigung brauchte, irgendeinen Zauber, der mich und meinen Verein vor der gefährlichen Offensive von Manchester beschützte. Und wie Millionen Fußballfans fand ich meine Rettung im Aberglauben.
Meine Wahl fiel auf die kleine Coladose vor mir. Eine innere Stimme flüsterte mir zu: „Jedes Mal, wenn ManU im Angriff ist, musst du einen Schluck in den Mund nehmen. Wird der Angriff gefährlicher, dann schluck die Cola einfach runter und nichts kann passieren.“ Das klang erstaunlich logisch für mich, und das Beste: es wirkte auch. Dank der geheimen Kräfte einer kleinen roten Brausedose waren Bayern und ich fortan unbesiegbar. Denn während jeder Angriff des Gegners nun zwangsläufig verpuffte und Manchesters Offensive verblüffend zahm wirkte, führten wir schon seit der 6. Minute durch einen Basler-Freistoß mit 1:0. In der Halbzeit blieb ich als einziger der Fans im Restaurant und schaute starr auf die halbaufgegessene Pizza vor mir. Nur noch fünfundvierzig Minuten, dann hätten wir es geschafft. Dann wäre eine perfekte Saison gekrönt und wir endgültig im Fußballolymp, so wie Dortmund vor zwei Jahren gegen Turin. Das wäre einfach zu schön. Bitte, lieber Fußballgott. Bitte!
Anpfiff zur zweiten Halbzeit. In der Kabine hatte Alex Ferguson zu seinen Spielern Folgendes gesagt: „Am Ende dieses Spiels wird der Cup nur sechs Fuß von Euch entfernt stehen – und ihr werdet ihn nicht einmal anfassen dürfen. Und viele von Euch werden nie mehr so nahe rankommen. Wagt es ja nicht, hier nachher reinzukommen, ohne alles gegeben zu haben!“ Netter Versuch, aber was nutzte es, wenn im fernen Italien ein deutscher Teenager einen Schluck Cola im Mund hatte und dadurch weiterhin jeden Angriff seines Teams zerstörte?
Denn Manchester erspielte sich jetzt zwar ein paar Chancen, aber natürlich blieben sie durch meinen Dosenzauber ungenutzt. Und kaum, dass bei uns Scholl ins Spiel kam, drückte Bayern auf die Vorentscheidung. Effenberg mit einem Gewaltschuss, gerade noch so gehalten. Kurz darauf Scholl mit einem genialen Lupfer. Der Ball segelte wie in Zeitlupe über Schmeichel hinweg, der würde doch nicht wirklich ins Tor … doch, er würde … Nein, er prallte im letzten Moment gegen den Pfosten und wieder raus. Wie knapp, wie verdammt knapp. Ich blickte auf die Uhr. Nur noch gute zehn Minuten, beim Bildschirm oben links wie zementiert: Der Spielstand von 1:0 für uns. Es folgte wieder ein Bayernangriff, Gewühl im Strafraum, plötzlich knallte Carsten Jancker den Ball per Fallrückzieher an die Latte. Erst Pfosten, nun Latte! Ich konnte es nicht glauben. Schämte sich Manchester denn gar nicht für all dieses Glück?
Und dann kam die Nachspielzeit. Manche Ersatzspieler von Bayern trugen bereits die T-Shirts mit dem Siegeraufdruck unter ihren Trainingsjacken und warteten nur noch auf den Schlusspfiff, um auf den Rasen zu stürmen, und auch am berühmten Henkelpokal der Championsleague waren schon die Bändchen in den Farben des FC Bayern angebracht. Alles war bereit für die große Feier. Währenddessen trieb ManU noch einmal über die linke Seite den Ball nach vorne …
Später hieß es, dass Schiedsrichter Collina den Manchesterspielern suggeriert hatte, es wäre ihr letzter Angriff. Es gab noch mal Ecke, und auch Torwart Schmeichel kam nun nach vorne. Alles oder nichts. Ich dagegen blieb ruhig, denn was sollte schon passieren? Zum einen gab es den berühmten Bayerndusel, den jeder kannte, und zum anderen besaß ich nachweislich ein Zaubermittel, gegen das jegliche englische Angriffswut nichts ausrichten konnte. Beckham legte sich den Ball zur Ecke zurecht, zeitgleich griff ich wieder nach meiner Coladose … und erstarrte. Sie war leer. Absolut leer. Nicht mal der kleinste Tropfen kam noch heraus. Ich hatte das Glück schluckzessive ausgetrunken, und jetzt war nichts mehr da.
Auf einen Schlag war ich in Aufruhr, starrte nervös durchs Restaurant, blickte wieder auf den Bildschirm, und dann stand ich mit einem Ruck auf. Ich musste hier dringend raus, schnell. Die anderen Fans an meinem Tisch wollten mich noch aufhalten, manche grinsten gönnerhaft oder lachten über meinen Aufbruch. Diese Idioten, sie hatten ja keine Ahnung, was für geheime Mächte sich gerade gegen uns verschoben hatten. Ich spurtete in Richtung Ausgang, da hörte ich in meinem Rücken bereits das Raunen, dann lautes Gefluche. Widerwillig kehrte ich noch mal ins Restaurant zurück und sah auf dem großen Bildschirm, wie die Manchesterspieler ausgelassen feierten. Ein Gegentor, und das in der 91. Minute des Finales. Nein, verdammt. Nein!
Draußen vor dem Restaurant versuchte ich durchzuschnaufen. Während mir eine sinnlose Träne die Wange herunterlief, blickte ich auf die Menschen auf den Straßen, die das Spiel nicht verfolgten und keine Ahnung hatten, welche Dramen sich gerade abspielten. Dann riss ich mich zusammen – noch war schließlich nichts verloren! Wie Beckenbauer nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft schlenderte ich nun mit den Händen den Hosentaschen über Forios Dorfplatz und ging die Verlängerung durch. Der psychologische Schock würde tief sitzen, so viel war klar. Wir hatten fast das ganze Spiel mit 1:0 geführt, deshalb würde es dauern, bis die Bayernspieler den Rückschlag verdaut hatten. Die erste Halbzeit der Verlängerung würde also eher Manchester gehören, aber vielleicht könnten wir ja in der zweiten Halbzeit zurückschlagen. Doch wie sollten wir nur gewinnen, jetzt, wo die Coladose leer war?
Während ich meine Runde drehte und mich auf die Verlängerung einstimmte, kam ich an einem anderen Restaurant vorbei, das ebenfalls das Spiel zeigte. Ich blickte auf die feiernden Manchesterspieler und schüttelte den Kopf. Okay, sie hatten in der Nachspielzeit ausgeglichen, das konnte man schon mal bejubeln, aber doch nicht ganze drei Minuten lang. Sagte der Schiedsrichter denn da gar nichts dazu? Genervt schaute ich mir noch mal die Wiederholung des Tors an. Ja, Eckball von links von Beckham, kannte ich schon, der Ball segelte in den Strafraum, klar … aber, Moment, wieso nahm er nun diese Flugbahn, das war doch ganz anders gewesen, und wieso jubelte hier nicht Sheringham, sondern plötzlich Solskjær?
Was war da nur los?
Es dauerte mehrere Sekunden, bis ich begriff, dass es ein anderer Eckball und ein anderes Tor war. Bis mir dämmerte, dass Manchester United ein unterlegenes Finale mit zwei Treffern in der Nachspielzeit gedreht hatte, einer in der 91. Minute und einer in der 93. Minute, gleich danach Abpfiff, und das alles im wichtigsten Spiel im Vereinsfußball. Kurz: Dass gerade etwas passiert war, was es in dieser komprimierten Dramatik im professionellen Fußball so noch nie gegeben hatte.
Ich sah die auf dem Rasen verstreut liegenden Bayernspieler und Lothar Matthäus, der seine Medaille für den zweiten Platz sofort wieder ablegte, ich sah David Beckham, der in die Kamera „I’m so sorry“ lachte und die ausgelassen tanzenden Manchesterspieler, ich sah den hemmungslos weinenden Sammy Kuffour, und dann sah ich gar nichts mehr, denn ich weinte nun selbst. Minutenlang saß ich mitten auf dem staubigen Dorfplatz in Forio und schluchzte. Und in diesem Moment passierte etwas, was ich als Bayernanhänger so nur vom Hörensagen kannte: Neutrale Fans, zumeist Italiener, aber auch deutsche Urlauber, hatten Mitleid mit meinem Verein. Sie legten mir die Hand auf die Schulter und trösteten mich, geschockt von einem Spiel, das Kahn später die „Mutter aller Niederlagen“ nannte, während Ferguson nur konstatierte: „Football, bloody hell!“
Sie haben natürlich beide Recht, ebenso die vielen anderen, die über dieses Spiel und seinen ungewöhnlichen Ausgang geredet und geschrieben haben. Und doch konnten sie alle nicht ahnen, dass der wahre Grund für all das in Wahrheit nur eine leere Coladose gewesen war.
–