Heimweh nach dem Ort, den es nie gab

Wie ich für die Arbeit an einem Roman jahrelang per Anhalter durch die 80s reiste – und mir die amerikanischen Coming-of-Age-Filme dabei nicht nur ihre Zeit erklärten, sondern auch meine eigene Jugend im Deutschland der Neunziger.

Zuerst erschienen als Essay in der Neuen Zürcher Zeitung. Mehr zur Entstehung findet sich hier.

Der Style, die Musik, die Sehnsucht als große Geste: John Cusack in „Say Anything“ (1989)

Die Erkenntnis kam erst am Ende meiner Reise in die Vergangenheit: Seit ich beschlossen hatte, mit Hard Land eine Hommage an das amerikanische Coming-of-Age-Genre der 80er zu schreiben, versuchte ich so tief wie möglich in die Popkultur jener Zeit einzutauchen. Obsessiv studierte ich die Musik dieser Dekade, las unzählige gebraucht gekaufte Jugendzeitschriften von damals – und schaute mir einen US-Coming-of-Film nach dem anderen an:

Natürlich Klassiker wie Stand By Me, Zurück in die Zukunft und alles von John Hughes. Aber auch die von Steven Spielberg angehauchten Goonies, Francis Ford Coppolas‘ antizyklische Werke wie Rumblefish oder abgründige Stoffe wie Heathers. Ich bekam eine Ahnung, wieso der statuenhafte Rob Lowe der frühen Achtziger ein Sexsymbol gewesen sein musste und verliebte mich ein wenig in Elizabeth Shue. Und ich sah mir auch viel Mittelmaß und sogar Quatsch wie Das turbogeile Gummiboot an, besessen von der Idee, jeden damals bei amerikanischen Teenagern beliebten Film zu sichten. Mein Ziel: nicht nur der Ästhetik und dem Gefühl der 80er-Jahre Coming-of-Age-Popkultur auf die Schliche zu kommen, sondern auch der Antwort auf die Frage: Wenn die meisten dieser Filme so offensichtlich unperfekt sind, oder wahlweise kitschig, klischeehaft und lächerlich naiv – wieso werden sie dann auch heute noch von vielen jungen Menschen geliebt?

Natürlich musste ich als Außenstehender zu anderen Schlüssen kommen als jemand, der die Eighties bewusst erlebt hat. Und natürlich ist es eine Frechheit, wenn ich mir als Tourist dieser Zeit und dieses Landes irgendwelche Theorien anmaße, bei denen ich mir selbst nicht mal ganz sicher bin. Macht es überhaupt Sinn, ein Jahrzehnt so zu pauschalisieren? Lassen sich aus der amerikanischen Popkultur wirklich Rückschlüsse über die dortige Wirklichkeit ziehen? Vermutlich nicht, zu unterschiedlich verläuft jedes einzelne Leben, zu viele Ausnahmen gibt es. Aber einen guten Grund für dieses Experiment gab es dann doch – es machte Spaß.

Das Problem war eher, dass ich auch nach Jahren der Recherche nicht mehr als ein vages Gefühl für diese Zeit hatte, die tieferen Antworten blieben mir verschlossen. Bis mir der allerletzte Film auf meiner Liste die Augen öffnete.

In einem Internetforum war Hart auf Sendung als unterschätzter 80s-Film genannt, auf DVD allerdings vergriffen. Ich bestellte ihn ohne große Erwartungen auf eBay, als pflichtschuldigen Abschluss meines Langzeitprojekts. In der Hauptrolle der junge Christian Slater, der neu an eine Schule kommt. In der Klasse ist er still und verklemmt, ein Außenseiter. Abends aber betreibt er ein Piratenradio und gibt sich mit verzerrter Stimme als „Happy Harry“ aus. Auf einmal wirkt er lebendig, virtuos. Er spricht über die Sinnlosigkeit des Lebens, Qualen mit den Eltern, ungerechte, zynische Lehrer oder auch derb über Sex. Er wiegelt auf. Hin und wieder rufen Schüler*innen an, manche finden seine Sendung lustig, fast alle teilen ein kollektives Gefühl von zorniger Verzweiflung. Irgendetwas stimmt nicht mit dieser Generation, denkt man beim Schauen, sie sind lost. Eines Abends hat Happy Harry einen Anrufer in der Leitung, der laut überlegt, sich umzubringen. Harry glaubt erst, es wäre ein Scherz und begreift zu spät, dass er helfen muss. Der Junge erschießt sich, Stille in der Leitung. Fortan beginnt eine mediale Hexenjagd: Wer ist dieser mysteriöse Schüler, dem das Piratenradio gehört? Wer ist Happy Harry?

Beim Sehen hatte ich ein eigenartiges Gefühl, und als ich fertig war, sprangen meine Gedanken umher: „Das kann unmöglich ein Film aus den 80s sein!“, dachte ich, und zugleich: „Diese ambivalente Stimmung, diese Verzweiflung, Leere und Wut … das kommt mir irgendwie bekannt vor.“ Ich googelte – tatsächlich, der Film war von 1990.

Und da kam sie doch noch, die späte, unverhoffte Erkenntnis meiner Recherche, und mehrere jahrelang gehegte, diffuse Gefühle rasteten gleichzeitig ein. Ich verstand nun nicht nur, wieso ich so sicher gewesen war, dass es kein Achtzigerfilm sein konnte und wofür dieses Jahrzehnt für mich eigentlich stand. Sondern auch, woher ich die Stimmung aus Hart auf Sendung so gut kannte – und was das bedeutete.

Christian Slater als Sprachrohr einer verlorenen Jugend in „Hart auf Sendung“ (1990)

Ich bin 1984 geboren, auf dem Land aufgewachsen, ein Kind der Neunziger. Meine frühen popkulturellen Quellen waren das Lesen der Bravo, die Musik meiner älteren Schwester (Hip Hop) und natürlich MTV, damals noch ein wirklich großes Ding. Aber zugleich schwappten auch unzählige US-Filme aus den 80ern über den Rand ihres Jahrzehnts in meine Kindheit. In unzähligen Fernseh-Wiederholungen sah ich Ferris Bueller die Schule schwänzen und Marty McFly im DeLorean in die Vergangenheit reisen. Sah den Todesstern explodieren, Indiana Jones die Welt retten und Sarah Connor den Terminator bekämpfen. Das alles schien mir so viel spannender als die meisten Filme meiner eigenen Zeit. Deren Qualität umschrieb Leonard Hieronymi in seinem lesenswerten Artikel Verhängnisvolle Neunziger als „süß, aber anspruchslos“. Er wollte zwar am Ende auf etwas fundamental anderes hinaus, aber auf zwei Thesen würde ich mich sofort einigen: Dass Amerikas kultureller Einfluss nie dominanter war als damals, als auch in vielen deutschen Kinderzimmern USA-Flaggen oder Poster vom World Trade Center hingen. Und dass spätestens Mitte der Neunziger, als ich etwa zwölf Jahre alt war, dem Jahrzehnt popkulturell ein wenig die Puste auszugehen schien.

Grunge, die vielleicht letzte innovative Musikrichtung für lange Zeit, war mit Kurt Cobains Selbstmord gestorben, stattdessen gab es viel Techno, Eurodance, unzählige Boygroups oder mit Britpop bereits Zitate vergangener musikalischer Dekaden. Und im Kino liefen oft seichte romantische Komödien und einfach gestrickte Actionfilme. Das Dilemma in einem Satz: Michael Bay galt damals ernsthaft als cooler Regisseur. Jede Ausnahme, jedes großartige Rap-Album und jeder tieferschürfende Film schienen mir die Regel des eher uninspirierten Mittelmaßes dieser Dekade nur zu bestätigen. Gedanken gemacht, woran das liegen könnte, habe ich mir damals jedoch nicht. Nun, nach dem Schauen von Hart auf Sendung, hatte ich zumindest eine Theorie:

Sieht man sich mehrere dieser amerikanischen Coming-of-Age-Filme der 80er-Jahre an, fällt auf, dass sie die damalige Wirklichkeit kaum reflektieren (offensichtliche Ausnahme: WarGames mit Matthew Broderick von 1983). Vor allem die Klassiker des Mainstreambereichs wie The Breakfast Club haben mit der Schwere der Reagan-Jahre wenig zu tun. Es fehlt nicht nur der Blick auf Umweltzerstörung, Tschernobyl und die Rückständigkeit dieser Zeit, in der Homosexualität in vielen amerikanischen Staaten verboten war, während parallel dazu unzählige Menschen an Aids starben. Man vermisst auch die tief verankerte Angst vor einer atomaren Eskalation im Kalten Krieg (den TV-Film The Day After von 1983, der die Auswirkungen eines Erstschlags durchspielt, sahen mehr als hundert Millionen Amerikaner). Vielmehr bildeten diese Jugendfilme das popkulturelle Gegengewicht zu einer oft bedrohlichen Wirklichkeit. Sie pendelten diese Ängste und Sorgen aus, waren die andere Seite der Waagschale: naiv, sehnsüchtig und eskapistisch. Kein Wunder, dass dann auch gleich fünf der größten 80s-Teenagerklassiker – Der Club der toten Dichter, Stand By Me, The Outsiders, Zurück in die Zukunft und Dirty Dancing – gar nicht in den 80s selbst, sondern in der Vergangenheit spielen.

Ich weiß noch, wie ich als Jugendlicher einen älteren Bekannten auf die Achtziger ansprach und aus der Stimmung dieser Filme heraus sagte, dass das doch eine tolle, unbeschwerte Zeit gewesen sein müsse. Er zeigte mir nur den Vogel und sagte: „Bist du verrückt? Es war schrecklich. Ich hab damals in Berlin gelebt, gefühlt jede zweite Woche gegen irgendwas demonstriert und ständig Schiss gehabt, dass der Kalte Krieg doch noch ausbricht. Dann hätte es uns alle nicht mehr gegeben. Wir haben gefeiert und uns Sachen eingeschmissen, um das alles zu vergessen.“

Erschien ein Jahr, nachdem Gorbatschow in der Sowjetunion an die Macht kam: „Ferris macht blau“ (1986)

Die Neunzigerjahre dagegen, in denen ich solche unbedarften Fragen stellte, kamen mir als Kind und Teenager immer bunt zusammengewürfelt vor. Ein optisch wilder Mix aus Baggy-Pants, Chucks, Plateauschuhen, Bandanas, Flanellhemden und vielen weiteren Stilrichtungen, und auch popkulturell schien für mich eher wenig zusammenzupassen. Und zwar – das ist der entscheidende Punkt –, nicht nur in der ohnehin immer widersprüchlichen, heterogenen Wirklichkeit, etwa auf dem Pausenhof meiner Schule. Sondern auch in vielen Filmen, Serien und Musikvideos dieser Zeit.

Der Alltag der Achtzigerjahre war zwar ebenfalls divers und voller Subkulturen – sehr schön nachzulesen etwa in High Energy von Jens Balzer. In Deutschland war es sowohl das Jahrzehnt der Konservativen wie das der Grünen, es entstand eine neue Fitnesskultur, es gab Punks, Popper, Goths und Yuppies (Young Urban Professionals), aber auch das weibliche Dress-to-Power mit männlichen Schulterpolsterjacketts und bereits erste genderfluide Stars wie Boy George und Annie Lennox. Doch genauso war es eine oft spießige, bleierne Zeit. Nicht zuletzt fanden sich später viele Menschen in Florian Illies‘ Generation Golf wieder, das die behütete Langeweile dieser Dekade nachzeichnete.

Kunst und Storytelling dagegen mussten auf die große politische Rahmenhandlung des Jahrzehnts reagieren – und taten es auf ihre eigene, verdrängende Weise. Dafür wählte die amerikanische Popkultur der 80s, die ich in den letzten Jahren wie ein Süchtiger inhalierte, vor allem im Mainstreambereich eine fast homogene Ästhetik. Die Frisuren, Kleidungen und Stile wiederholen sich, und gefühlt erkennt man einen Song aus diesem Jahrzehnt schon nach Sekunden; selbst innovative Bands kamen kaum ohne klassische Synthies oder damals populäre Beats aus. Fast noch drastischer sieht es bei den erwähnten Jugendklassikern des amerikanischen Hollywoodkinos aus: hier sucht man alle Zwischentöne fast immer vergebens. Die Filme ähneln sich in Figurenzeichnung, Bildsprache, Inhalt und Tonfall sogar so sehr, dass ein nur wenige Monate später entstandenes Werk wie Hart auf Sendung dann tatsächlich heraussticht.

Denn während das amerikanische Coming-of-Age-Kino der 80er vor der komplexen Realität in eher simple, behütende Geschichten flüchtete, mit Fokus auf persönliche Einzelschicksale, hatten die 90er kaum mehr etwas, an dem sie sich reiben konnten. Es gab zwar weiterhin Kriege und einzelne Konflikte, aber keine übergeordneten Ängste mehr, auf die es als Gesellschaft gemeinsam zu reagieren galt; schon gar kein Cold-War-Storytelling mit klar verteilten Rollen. Stattdessen Identitätsverlust und das vom Philosophen Francis Fukuyama ausgerufene „Ende der Geschichte“. Dieser veränderte Rahmen transformierte auch die Art des Erzählens.

Wenn wir heute also das oft oberflächlich daherkommende Kino der Achtziger betrachten, müssen wir uns stets sein Gegengewicht dazu denken: Die politische Bedrohung, die düsteren Reagan-Jahre, die Hoffnungslosigkeit und Angst, die große Erzählung von Kapitalismus und Kommunismus, West und Ost, Gut und Böse. Weil diese Filme dazu gemacht waren, in Krisenzeiten Ablenkung und Geborgenheit zu vermitteln, wirken sie nach außen leicht. Ihr wahres „Atomgewicht“ aber ist bedeutend schwerer, denn auf der dunklen Seite ihres Zelluloids sind die Ängste ihrer Zeit genauso eingeschrieben wie damalige Sehnsüchte oder auch gesellschaftliche Rückstände. So ist auch Zurück in die Zukunft von 1985 beides: Bereits nostalgisch seiner Zeit entfliehend und zugleich auf unbedachte Weise verletzend; wirkt es dort doch, als habe mit Marty McFly nun ein Weißer Rock’n’Roll erfunden.

Verkörperte ideal die Sehnsucht vieler 80er-Jugendfilme nach der „guten alten Zeit“, indem er sogar tatsächlich in die 50er reiste – wo sich prompt die eigene Mutter in ihn verliebte: Marty McFly (Michael J. Fox) im Klassiker „Zurück in die Zukunft“, der für sein Drehbuch eine Oscarnominierung erhielt.

In den Neunzigern wiederum wurden typische Jugendgefühle wie Verlorenheit und Leere nun auch filmisch stärker eingefangen – etwa von Larry Clarks provokativem Drama Kids, und es stellten sich plötzlich Sinnfragen: Was jetzt? Gegen wen richtet sich unsere Wut überhaupt? Und wer sind wir eigentlich? Auch der wie ein MTV-Video geschnittene Film Reality Bites von 1994 kreist um diese Fragen. Die von Winona Ryder gespielte Studentin spricht dort in ihrer Abschlussrede über die Unsicherheit ihrer „Generation“. Ein Wort, das tatsächlich in so gut wie keinem der 80s-Filme auftauchte, die ich gesehen habe. Das in meiner eigenen Kindheit und Jugend aber allgegenwärtig war. Ob in Generation X von Douglas Coupland von 1991 oder in unzähligen Werbungen, Büchern, Filmen und Musikvideos.

Wenn ich später auf meine Jugend zurückblickte, kamen mir die Neunziger deshalb kulturell immer ein wenig wie ein Halt auf freier Strecke vor. Als wären alle aus dem Zug der Geschichte ausgestiegen und säßen nun gelöst, aber auch etwas gelangweilt in einem Einkaufszentrum herum. Jetzt, nachdem die alten Ängste und Zwänge endlich ausgestanden schienen, gab es viel Zeit, sich Gedanken zu machen. Und zwar nicht wie heute oft über gesellschaftliche Missstände und Ungleichheiten, sondern: über sich selbst. Wo in den Achtzigerfilmen meist noch Eindeutigkeit und Selbstverständlichkeit herrschten, hieß es nun Mehrdeutigkeit, Selbstreflexion und Ironie. Der langmähnige Rocker aus den 80s spielte noch mit heiligem Ernst ein minutenlanges Gitarrensolo. Der Musiker aus den 90s winkte lässig ab oder ahmte es mit einem Grinsen nach, als alberne Retro-Geste.

Damals schienen die Achtziger aus der Mode und ewig gestrig mit ihrer Überästhetisierung, ihrem bescheuerten Kitsch und Pathos. Lars Ulrich von Metallica berichtete einmal, wie er auf der Spitze des 80s-Ruhms mit weißen Stiefeln, weißer Hose, weißem Hemd und weißem Hut herumlief, dann ein Konzert des Flanellhemd-tragenden, lässigen Kurt Cobeins sah – und sich abgrundtief schämte. Nirvana dagegen wurden im neuen Jahrzehnt die beste Band der Welt, Rap und Hip Hop (zuvor noch Subkultur) kommerzieller und stilbildender Mainstream, Terminator 2 von 1991 war stärker als der Vorgänger von 1984 und eine Serie wie Twin Peaks bahnbrechend. Tatsächlich waren die Neunziger beim Fernsehen überlegen, da auf dieser Langstrecke das Übermaß an Zeit, Selbstreflexion, Sinnfragen und Ironie produktiv kanalisiert werden konnte. Es zeigte sich in den ersten erzählerisch großen Serien wie The Sopranos und in satirischen, bissigen Sitcoms wie den frühen Simpsons und Seinfeld.

Die meisten Hollywoodfilme der Neunziger dagegen sind – bis auf wichtige historische Erzählungen und/oder Arthouse-Ausnahmen von u.a. Steven Spielberg, Spike Lee, Sofia Coppola, Paul Thomas Anderson, Stanley Kubrick oder Quentin Tarantino – in meinen Augen etwas weniger gut gealtert. Gerade, weil sie sich kaum auf große politische oder gesellschaftliche Erzählungen beziehen konnten, wirken sie seltsam zeitlos und könnten gefühlt auch oft aus den Nullerjahren stammen. Erst gegen Ende des Jahrzehnts, als das nahende Millenium aufregenderes Storytelling verhieß, gab es vermehrt Meisterwerke wie The Matrix, Fight Club und American Beautyalle aus dem Jahr 1999.

Das Problem dieser Dekade für mich: Wenn alles immer nur ironisiert wird, wird zugleich fast nichts ernstgenommen, auch nicht gesellschaftliche Rückstände oder unbedachte Verletzungen, so dass meist nur eine selbstreferenzielle Leere zurückbleibt. Und wenn etwas so konfus und unscharf ist wie die Neunziger, verliert es zugleich seine erzählerische Kraft und die Vision über die eigene Zeit hinaus. Wofür steht das Jahrzehnt? Und wie soll es uns so heute noch inspirieren? „Die 90er kommen wieder“ heißt es diese Tage so oft. Nur: jede*r dürfte darunter wohl etwas anderes verstehen.

Die klar umrissene Popkultur der Achtziger aber erfuhr eine späte Verehrung und erlebte zuletzt ein Revival in Form von Serien wie Stranger Things (deren 1984 geborene Schöpfer diese Zeit allerdings ebenfalls selbst nicht erlebt hatten) oder unzähligen Filmen und Bands, die sich alle von diesem Jahrzehnt inspirieren ließen. Denn ja, die Frisuren wirken mit heutigen Augen betrachtet häufig dämlich, die Klamotten grotesk, die Dialoge in Filmen hölzern und der Materialismus zur Religion überhöht (was ist das wahre Happy End von Zurück in die Zukunft: dass die Familie McFly glücklich ist und der Vater selbstbewusst? Oder doch der frisch gewachste Jeep in der Garage?). Dazu ironiefreie „Ich liebe dich“s, pathostriefende Umarmungen, wortkarge Väter, Männer auf Motorrädern im Abendlicht, Male Gaze auf sexualisierte Frauen, im Mainstream klischeehafte Rollenbilder und leider auch oft null Diversität – dafür aber ein Beachvolleyballspiel in Top Gun mit nackten Oberkörpern und Typen, die sich Goose und Maverick nannten. Und das alles ohne Augenrollen oder Zwinkern, meinten die das damals wirklich ernst?

Die verblüffende Antwort ist: ja, offenbar sogar sehr. Und vielleicht ist es genau dieses aufrichtige, unreflektierte Bekenntnis zu dem, was man da tat, das einen heute zwar befremden muss oder oft schlicht abstößt und verärgert, aber in seiner unwissenden Unschuld in manchen Fällen auch berührt.

Fast Times at Ridgemont High“ von 1982 ist eine Ausnahme der 80s-Jugendfilme, da hier mal kein Mann, sondern eine Frau Regie führte: Amy Heckerling.

Mein Lieblingsbeispiel dazu ist eine Szene aus dem Film Footloose von 1984, in der die Jugendlichen (Jugendliche in 80s-Filmen bedeutet: Der Schauspieler Kevin Bacon war beim Dreh 28) den Abschlussball vorbereiten. In ihrem Bundesstaat dürfen sie nicht tanzen, doch sie lassen sich diesen Abend nicht verderben und richten eine alte Scheune in einem Nachbarstaat her. Und wie klischiert ist das gefilmt: Mit purer Freude bauen sie alles auf, werfen sich enthusiastisch Sachen zu, fegen durch, blasen Luftballons auf, klatschen grinsend ab, dazu cheesy 80s-Musik. Das alles wirkte im ersten Moment derart lächerlich, dass ich beim Schauen kurz lachen musste. Keine einzige Sekunde schien damals auch nur einer der Beteiligten einen Schritt zurückzutreten und mit Blick von außen zu sagen: „Leute, das ist ja uncool, das wirkt total übertrieben!“ Es gibt keine zweite Ebene, keine Relativierung oder Ironie, alles ist genau so gemeint.

Das gleiche auch bei The Breakfast Club aus dem Jahr 1985. Ein Film, der kaum eine unvorhergesehene Wendung kennt und im Grunde nur aus Klischees besteht. Fünf Teenager sitzen nach, sie alle scheinen einem Jugendfilm-Baukasten entnommen: Da wäre der coole, toughe Rebell. Die zickige, oberflächliche Schöne. Der sich prügelnde, mobbende Sportler. Das schweigsame, seltsame Goth-Mädchen und der unbeliebte, nerdige Streber.

Und was passiert im Laufe des Films? Diese fünf wandelnden Klischees werden auf die klischeehafteste Weise gebrochen: Die Schöne ist in Wahrheit gar nicht oberflächlich, der Rebell unsicher und verletzlich. Der Sportler wird selbst von seinem Vater unterdrückt. Das düstere Gothmädchen verwandelt sich in den weißen Schwan. Und der Streber wollte sich umbringen und findet nun Freunde, hofft er zumindest. Am Ende gibt es noch zwei Liebes-Happyends, von denen mindestens eines (Ally Sheedy und Emilio Estevez) forciert wirkt. Wie kann es also sein, dass dieser Film trotzdem ikonisch wurde? Wo liegt da nur der Zauber, der dafür sorgt, dass auch heute noch so viele Menschen mit diesen fünf „Jugendlichen“ (Judd Nelson war im Jahr des Erscheinens 26 Jahre alt) nachsitzen wollen?

Vielleicht ist ein Grund, dass es im Coming-of-Age-Kino der damaligen Zeit nie darum ging, was erzählt wurde. Es ging immer nur um das wie. Und um die unschuldige, offene Art, mit der mit all diesen Klischees umgegangen wurde. Denn das ist für mich das wahre Geheimnis hinter diesen Kult-Teenagerfilmen aus den Achtzigern: dass es nur in den Augen der Erwachsenen solche tausendmal gesehenen Klischees sind. In den Augen der Jugendlichen dagegen sind es magische und einzigartige „erste Male“. Als Teenager blieb einem schließlich kaum Platz für Ironie, gab es meist nur den Moment. Alles ein bitterernstes Drama, das sich oft erst im Rückblick in eine Komödie verwandelte.

Und weil der Regisseur John Hughes das verstand, konnte er sich trauen, es wie schon in seinen anderen Filmen auch in The Breakfast Club durchzuziehen. Nie erhebt er sich durch routinierte Distanz über seine jugendlichen Figuren, sondern bleibt immer auf Augenhöhe. Er staunt und leidet mit ihnen und zelebriert all das, bei dem wir sonst so gelangweilt abwinken, in seiner Banalität als wäre es etwas vollkommen Neues, Wichtiges. Hughes wurde bei den Dreharbeiten auf gewisse Weise selbst wieder zum Teenager. Nur so lassen sich manche bescheuerte, aber mitreißende Szenen erklären. Und nur so verwandelten sich auch viele Klischees plötzlich wieder zurück – in aufregende erste Male.

Wie bei der Scheunenszene aus Footloose ahnt man sofort, was ein Film wie The Breakfast Club verlieren würde, wäre er mit heutigen Mitteln inszeniert. Jede tickende Klischeebombe würde wohl mit Ironie und Relativierung entschärft, den Werkzeugen der Erwachsenen. Statt den albernen Tanzbewegungen, die die Jugendlichen auf den Tischen machen, wäre alles geerdeter, cooler, durchdachter. Und man würde sich schon kurz darauf nicht mehr daran erinnern …

Aber wir alle erinnern uns sehr gut daran, wie Patrick Swayze mit vollem Ernst den Filmeltern von Jennifer Grey den holzdummen Satz „Nobody puts Baby in the corner“ entgegenschleuderte und sie kurz darauf in die Höhe reckte. Hands up, wer das bescheuert findet. Und hands up, wer es insgeheim liebt. Es sind dieser aufrichtige Ernst, diese uns oft verlorengegangene Zukunftshoffnung und unbesiegbare Naivität, die bis heute durch diese Filme leuchten. Und es ist die darin liegende dumme Vorhersehbarkeit, die sich sofort vertraut anfühlt; wie ein nach Hause kommen in ein behütendes, vielleicht sogar erfundenes Gefühl.

Erst fühlen und machen, das Reflektieren kam dann Jahrzehnte später: „Footloose“ von 1984. Über die problematischen Szenen vieler dieser Filme schrieb Schauspielerin Molly Ringwald („The Breakfast Club“) einen lesenswerten Artikel.

Und obwohl die amerikanischen Coming-of-Age-Filme der 80s auch deshalb oft wenig mit der Wirklichkeit zu tun hatten – dazu fast nur von Männern inszeniert wurden und im Mainstream auf ermüdende Weise stets weiß, mittelständisch und heterosexuell daherkamen –, steckt in ihnen für mich dennoch eine emotionale Wahrheit über diese Zeit. Über die Rückständigkeit jener Dekade etwa, und die unterdrückten Ängste und Sorgen. Aber genauso über die damaligen Hoffnungen und Träume. Denn wir alle sind nie nur unsere Realität, wir sind immer auch unsere Sehnsucht. Das eine zeigt uns, wo wir sind. Das andere, wo wir hinwollen. Weshalb uns dieses Gefühl oft ebenso viel über eine Epoche erzählen kann wie bestimmte Ereignisse und Fakten.

Wirklichkeit hat Millionen Gesichter, Sehnsucht und Jugend sind universell. Und taugen gerade deshalb auch unabhängig von realen Begebenheiten als Leinwand, denn auf sie projizieren wir unsere eigenen Gefühle und Erinnerungen. Zumal die so ikonisch wirkenden Coming-of-Age-Klassiker aus Amerika die Jugend ja nicht einfach nur beschrieben. Sie erhoben sie vielmehr zur Fiktion und stellten dabei bis heute gültige Ideen zur Verfügung. Erzeugten schon seit James Deans Zeiten Bilder, die stärker waren und auch mehr Sinn ergaben als die oft widersprüchliche Wirklichkeit des eigenen Lebens. Und produzierten unzählige Identitäten und Rollen – vom toughen Außenseiterrebellen bis zum unterschätzten Mauerblümchen –, in die man als unsicherer Teenager schlüpfen konnte, bis man wusste, wer man selbst war.

Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Rausch mit sechzehn. Wie glücklich ich damals war, dass sich alles tatsächlich ein wenig so anfühlte wie aus den Filmen, die ich kannte. Wie ich sogar etwas nachhalf und torkelte, um es noch überzeugender zu gestalten – und wie es ein paar meiner Freunde insgeheim genauso taten. Dankbar hielt ich mich an dieses Script, an das sichere Geländer des Bekannten und schon Gesehenen, das ich als normal empfand. Womit ich meinen Teil beitrug, die erfundene Realität dieser Filme zu verwirklichen.

Denn am Ende ist Jugend ist für mich immer beides: Halb echt und intuitiv, halb geflunkert und kopiert. Und so waren wir gerade auch dann authentisch, wenn wir das Klischee spielten.

War es damals so wie in „The Breakfast Club“ von 1985? Oder wollen wir nur, dass es so war bzw. kopierte die Wirklichkeit den Film? Und ist das in unserer Erinnerung letztlich nicht das gleiche?

Doch wieso sind es nun gerade die Teenagerfilme aus den 80s, die dieses Genre bis in die Gegenwart definieren? Vielleicht auch, weil mit den 80ern heute häufig das Gleiche gemacht wird wie es viele von uns mit der eigenen Jugend tun; beides wird verklärt, denn bei beidem ist der dunkle Stachel der Angst inzwischen gezogen. Beim Blick zurück wirken viele politische Sorgen von einst ausgestanden, und auch der eigene Pubertätsschmerz ist oft gut verdrängt.

Stattdessen bleiben die schönen, emotional aufgeladenen Songs und Filme von damals und die Erinnerungen an die unbeschwerteren Momente der Jugend: Abende am See mit Freunden, der erste Kuss oder das Gefühl, sein Leben noch vor sich zu haben. Umso stärker womöglich, je weniger von den damaligen Träumen sich erfüllt haben; und je mehr man dafür realisieren musste, dass auch das „Ende der Geschichte“ nur eine Kaffeepause war. Weil unsere digitalisierte, globalisierte Welt sich heute mit komplexen Problemen konfrontiert sieht und die Zukunft durch den menschengemachten Klimawandel bedroht ist.

Und so kehren deshalb vielleicht manche wie ein Kind, das sich auf einem Ausflug verlaufen hat, für ein paar Stunden gern an den letzten vermeintlich sicheren Ort zurück: den bunten und in ihrer Popkultur so optimistisch wirkenden 80s. Was insofern ironisch ist, weil unser Gegenwartsgefühl, zusammengesetzt aus Zukunftsangst und Sehnsucht nach einer vermeintlich heileren Vergangenheit, wohl exakt dem entsprechen dürfte, was auch viele Menschen in den Achtzigern schon empfanden.

Einer der wenigen 80s-Mainstream-Jugendfilme, der von einer Frau geschrieben wurde – und auch sozialkritische Themen wie illegale Abtreibung verhandelte, was zu geplatzten Werbedeals führte: „Dirty Dancing“ (1987)

In den Jahren, in denen ich Hard Land schrieb, fragte ich mich oft, wieso mich das Thema Jugend so faszinierte. Diese Zeit der ersten Male, als man noch keinen Schutz hatte, nichts relativieren konnte, nur in der Gegenwart lebte; die sich noch dazu stets unendlich anfühlte, und wie im Kino auch immer etwas zu groß. Als man sich in sechs Wochen eines Sommers auf eine Weise verändern und neuerfinden konnte, für die man heute sechs Jahre bräuchte und es wahrscheinlich doch nicht schaffte. Und als die fast ewig wirkende Kindheit – für die man nach so vielen Jahren vielleicht schon ein altkluger Experte geworden war – wie ein rissig gewordenes Hemd abfiel und man plötzlich wieder ganz unten anfangen musste.

Bei der Arbeit am Buch habe ich versucht, die Worte für diese Erfahrungen und Gefühle zu finden, die mir damals gefehlt hatten, und dabei nicht alle Klischees zu meiden. Sondern ein paar wie John Hughes auch als magische Türen zu begreifen, durch die man hindurchmusste, weil sie die den Teenager vom Erwachsenen trennen. Ich habe mir die Jugend selbst als Ort vorgestellt, den man nach der Highschool verlässt, und nach einem Begriff gesucht für das schnelle Umschlagen zwischen Euphorie und Melancholie. Für diese Wehmut, die vielen schönen Momenten bereits beigemischt ist, weil man zum ersten Mal begreift, dass die Dinge endlich sind. Dass auch die besten Erlebnisse vorbeigehen werden, Abschiede für immer sein können und Freundschaften zerbrechen.

Und auch, weil man erkennt, dass immer schon ein Gewicht an der Welt hing, auch wenn man es als Kind so nie wahrgenommen hat. Etwa dass unser westlicher Wohlstand auf Ungerechtigkeit aufgebaut ist. Oder dass selbst die fürsorglichsten Eltern nicht perfekt, sondern die gleichen fehlerhaften Menschen sind wie man selbst. Oder dass alle Entscheidungen ihren Preis haben.

Ich habe (bzw. die Figur Kirstie) irgendwann das Wort Euphancholie gefunden und kurz das Gefühl gehabt, dass es das war, wonach ich jahrelang gesucht hatte. Aber das stimmt nicht. Denn wenn ich heute an meine eigene, manchmal schöne und oft triste oder brüchige Jugend denke und sie mit den geliebten Filmen aus dem Coming-of-Age-Genre abgleiche, mit Werken wie The Perks of Being a Wallflower, Lady Bird, The Last Picture Show, American Graffiti, Boyhood, aber natürlich vor allem mit den hier erwähnten 80s-Klassikern, dann wird mir klar, dass es mir bei diesem Genre in Wahrheit immer um etwas ganz anderes ging. Um einen Begriff für die nostalgische Sehnsucht nach etwas, das man vielleicht selbst nie hatte. Und um ein Wort für das Heimweh nach einem Ort, an dem man nie war.

Weil es ihn nie gab.