John Irving und wie er mein Leben rettete

Dieser Text erschien 2012 im damaligen Diogenes Magazin. Anlässlich John Irvings 80. Geurtstag schrieb ich eine Würdigung und einen Rückblick auf unser Treffen in Toronto 2019. Und hier gibt es ein Video-Gespräch mit John für die ZEIT.

Wenn ich an den Sommer 1999 denke, dann fallen mir einige Dinge sofort ein: Wie meine Katze starb, wie Bayern das Finale gegen Manchester verlor, wie sich für ein paar Momente die Sonne verfinsterte. Aber vor allem denke ich an dieses Mädchen, in das ich so unglücklich verliebt war.

Damals war ich fünfzehn, sah aber irgendwie aus wie zwölf. Ich ging aufs Internat, eine schlichte, staatliche Einrichtung im Allgäu. Vormittags besuchten wir mit den Landkindern die Schule, nachmittags und abends hingen wir auf den Zimmern herum, grillten im Garten oder spielten Fußball. Nachts stiegen wir manchmal aus und streunten durch das anliegende Dorf. Wir tranken unser erstes Bier und schmiedeten alberne Pläne, wie wir endlich in den geheimnisvollen Mädchenstock gelangen würden. Es war unser großer Traum, doch wir schafften es nicht ein einziges Mal.

Seit ich mit sechs ins Heim kam, war ich an dieses Leben fernab von zu Hause gewöhnt. Es ging eben nicht anders, ein Elternteil war manisch-depressiv und immer wieder in Psychiatrien, der andere steckte als Selbstständiger in finanziellen Schwierigkeiten und steuerte trotz langer Arbeitstage der Privatinsolvenz entgegen, da lag ein Internat nahe. Ich kannte jedenfalls nichts anderes und fühlte mich meistens wohl, nur was ich später einmal mit mir anfangen würde, war mir unklar. In Deutsch stand ich zwischen drei und vier, Analysen und Interpretationen hasste ich, und auch sonst schien ich keine nennenswerten Eigenschaften zu haben. Manchmal saß ich mit meinem Freunden am See und lachte mit ihnen, und im nächsten Moment schweifte mein Blick ab und ich hatte wieder das Gefühl, dass in meinem Leben etwas fehlte. Aber was es war, das wusste ich nicht.

Anders als in meiner Kindheit habe ich damals nicht sonderlich viel gelesen, zumindest erinnere ich mich nicht daran. Aber dann stand da auf einmal dieses weiße Buch in meinem Regal. Das Hotel New Hampshire. Ich hatte keine Ahnung, wie ich in seinen Besitz gekommen war. Auf dem Cover ein schwarzer Bär, der davonzutrotten schien. Sollte mir das etwas sagen? Und dann noch dieser Klappentext, der mir Geschwisterliebe, Freud, Gewichtheber und ein Hotel voller Huren und Anarchisten versprach. Von diesem John Irving hatte ich jedenfalls noch nie etwas gehört. Aber hatte das Mädchen, in das ich verliebt war, nicht gesagt, dass es gern las? Also, was soll’s, dachte ich und schlug die erste Seite auf. Wenige Tage später war meine Welt nicht mehr dieselbe.

 

Ich las das Buch tagsüber im Zimmer, nachts heimlich auf der Toilette, ich las es, während wir Hausaufgaben machen mussten oder beim Essen in der Mensa. Und einmal las ich es sogar in der Schule. Bei der Szene, in der der ausgestopfte Hund Kummer den Großvater attackierte, musste ich so laut lachen, dass es einem Lehrer auffiel. Ich bekam eine Strafe, aber es war irgendwie, als wäre nicht nur ich, sondern auch John Irving für diese grandiose, alberne Stelle bestraft worden.

Ich war in seine Art zu schreiben verliebt. Vorher hatte ich mir schlicht nicht vorstellen können, dass es Bücher wie Das Hotel New Hampshire gab, so überbordend von Witz, Charme, Klugheit und mitreißenden Charakteren. Es war so viel reichhaltiger und spannender als die humorarmen und sperrigen deutschen Bücher, die wir in der Schule lesen mussten. Doch jetzt hatte ich endlich Zugang zu einer neuen und aufregenderen Welt.

Als Nächstes las ich Gottes Werk & Teufels Beitrag, und das bedeutete mir sogar noch mehr, denn aufgrund meiner Kindheit im Heim fühlte ich mich dem Waisenjungen Homer verbunden. Auch bei diesem Buch fuhr Irving wieder große Geschütze auf und entführte mich in sein magisches Reich, in dem nichts unmöglich schien. Es folgten Garp und wie er die Welt sah und Owen Meany. Ich war noch immer fünfzehn, sah noch immer aus wie zwölf, und ich hatte noch immer keine Chance bei dem Mädchen, in das ich verliebt war. Aber jetzt wusste ich endlich, was ich mit meinem Leben anfangen würde. Ich würde die Schule zu Ende bringen, dann alles hinter mir lassen, nach Berlin ziehen und Geschichten schreiben. John Irving hatte mich inspiriert. Ich würde versuchen, wenigstens einmal ein so tolles Buch zu schreiben wie er, auch wenn dieser Traum vielleicht wie der Mädchenstock sein würde: heiß ersehnt und unerreichbar.

Jahre später lebte ich wie die Hauptfigur aus Spinner in einem fabelhaft schäbigen Einzimmerapartment in Berlin. Kein Bad, Dusche in der Küche, kein Strom auf der Toilette, keine Heizung, und nur eine Minute warmes Wasser. Handgestoppt. Trotzdem fühlte es sich großartig an. Das Apartment war vielleicht ein Drecksloch, aber es war mein Drecksloch, und ich tat endlich etwas, was ich wollte. Ich arbeitete tagsüber in irgendwelchen Jobs, schrieb nachts und bekam eine Absage nach der anderen. Meistens machte es mir nicht viel aus, so dass mich der Misserfolg nur umso stärker antrieb. Aber in manchen Nächten kamen Zweifel, und wenn es schlimm war, nahm ich Das Hotel New Hampshire und las ein paar Seiten.

2010 hatte John Irving eine Lesung in Zürich. Inzwischen war ich märchenhafterweise bei Diogenes gelandet, auch seinetwegen immer schon mein Lieblingsverlag. Obwohl ich in Barcelona lebte und Flugangst habe, musste ich ihn einfach sehen. Mit dem Nachtzug fuhr ich nach Zürich und hörte, wie er in einem Theater über sein neuestes Buch sprach. Später durfte ich ihn kurz kennenlernen. Ich stand vor ihm wie ein pubertierender Teenager vor einem Rockstar und stammelte, dass ich seinetwegen Schriftsteller geworden sei. Ich konnte kaum sprechen vor Aufregung. John Irving lächelte, dann nahm er meine inzwischen achtzehn Jahre alte, zerfledderte Ausgabe von Das Hotel New Hampshire und schrieb mir eine liebevolle Widmung hinein. Dieses Exemplar werde ich wie ein Ringer verteidigen.

Und auch wenn sich mein Schreiben im Laufe der Jahre veränderte und sich später noch weitere literarische Held*innen fanden, die sich zu ihm gesellten, werde ich nie vergessen, wie alles begann. Mit einem Autor, dessen wunderbare Geschichten mich inspirierten und mir den Weg wiesen, und mit einem davontrottenden schwarzen Bären, dem ich nur zu gern folgte.

Foto, 2010: ©Toni Suter

Hier geht es zum zweiten Teil.