„Lost in Translation“ und die Magie von Filmen

Ich weiß nicht mehr, wann ich begriff, dass Filme eine besondere Rolle in meinem Leben spielen würden. Mit dreizehn, als ich im Kino die Special-Edition von Das Imperium schlägt zurück schaute, überwältigt von dem Satz: „Nein … ich bin dein Vater!“? Oder mit vierzehn, als ich beim Schauen von Zurück in die Zukunft zum ersten Mal das Räderwerk durch diesen seit der Kindheit geliebten, lustigen Film schimmern sah – das brillante Drehbuch von Bob Gale und Robert Zemeckis? Vielleicht auch mit fünfzehn, als ich nach dem Abspann von American Beauty noch minutenlang sitzenblieb, benommen, überfordert und begeistert?

Schwer zu sagen. Doch vermutlich verstand ich die Magie von Filmen so richtig erst mit Lost in Translation von Sofia Coppola, den ich Anfang 2004 im Kino sah. Ich war damals neunzehn, und danach wusste ich zwei Dinge sicher: Dass Bill Murray ab jetzt cool war. Und dass ich mich zum ersten Mal in eine Figur aus einem Film verliebt hatte – in die von der ebenfalls 19jährigen Scarlett Johansson verkörperte Charlotte. Das Problem: diese Charlotte war fiktiv, und Scarlett Johansson gab es zwar wirklich, nur schien sie fast noch unerreichbarer. Und auch Japan war unendlich weit weg für jemanden, der keine Kohle hatte und nicht mal flog. Aber immerhin hatte ich den Soundtrack, mit dem ich immer wieder in die Welt des Films eintauchen konnte – in diese noch nie zuvor erlebte Mischung aus Melancholie und Geborgenheit, Fern- und Heimweh, Verlorenheit und Zuversicht. Selbst Wochen nach dem Schauen reichte ein Song wie „Just Like Honey“ oder eine Leuchtreklame am Bahnhof, die irgendwie nach Tokio aussah, um mich aufs Neue umzuwerfen.

Damals bedeuteten solche Filme die Welt für mich. Sie trösteten mich über Absagen oder Einsamkeit hinweg, sie weckten in mir die Sehnsucht nach der Ferne und gaben mir das Gefühl, dass ich anders sein konnte: Mutiger, abenteuerlustiger, interessierter, offener. Das Schönste an ihnen aber ist, dass sie selbst Jahre nach dem Schauen nicht ihren Zauber verloren haben. In den vergangenen Pandemie-Monaten, als ich wie wohl viele „lost in lockdown“ war und auch das Kino vermisste, habe ich noch mal einen nach dem anderen angesehen. In meinem Kopf läuft seitdem ein wilder Trailermix aus alten Lieblingsfilmen: aus dem Tourbus, der in Almost Famous im Abendlicht verschwindet, der Mutter aus Boyhood, die sich beschwert, dass die Zeit zu schnell verging. Aus dem Jungen, der am Ende von Moonlight wieder Hoffnung schöpft, dem Vater, der in Big Fish die Geschichten seines Lebens erzählt oder dem Zelt aus Royal Tenenbaums, in das die Geschwister flüchten. Und natürlich aus der legendären Kickerpartie in Absolute Giganten: Torwarttore zählen doppelt.

Diese Liste lässt sich endlos fortsetzen, und doch ist es Lost in Translation, der mich nun – trotz des aus der Zeit gefallenen Blicks auf japanische Stereotype – noch mal mit voller Wucht traf. Wie subtil ist die Geschichte zwischen beiden aufgebaut; dem mit Eheproblemen kämpfenden, ältlichen Schauspielerstar Bob Harris und der mit einem Fotografen verheirateten Charlotte, die gerade ihr Philosophiestudium beendet hat. Wie viele kleine und genau beobachtete Blicke und Begegnungen braucht es, ehe sich diese Beziehung entfaltet. Sie ist unrealistisch, aber das ist auch dieser Ort am anderen Ende der Welt: Das Hotel, in dem sie nachts mit Jetlag wachbleiben, die Bar, an der sie sich immer wieder treffen. Der Film hat keinen klaren Aufbau, kein klassisches Anfang/Mittelteil/Ende. Er sendet auf seiner eigenen Frequenz und ist ein Sog aus Empfindungen, Sounds und Bildern: Charlotte in Kyoto oder nachdenklich mit Kopfhörern auf dem Fenstersims. Bob beim konfusen Werbedreh, die Traurigkeit in seinen Augen, als er mit seiner Frau telefoniert. Er und Charlotte nachts im Pyjama zusammen fernsehend oder auf einer Party von japanischen Freunden. Dieser kurz ausgetauschte Blick beim Singen, der vieles verändert.

Lost in Translation ist mehr als die Summe seiner Teile, aber es sind diese einzelnen kleinen Momente, die ihn zu etwas Besonderem machen. Nach dem Schauen blieb ich noch bis tief in die Nacht auf. Hörte wieder die Musik, las im Internet über die Entstehungsgeschichte und auch noch mal ins Drehbuch, in dem – jetzt kommen Spoiler – geschrieben steht, was Bob am Ende Charlotte ins Ohr flüstert. Der Kuss zwischen den beiden war dagegen nie geplant gewesen und entstand erst improvisiert aus der Stimmung am Set heraus. Ebenso, dass Bill Murray beim Karaoke plötzlich Roxy Music singt: „More Than This“. Überhaupt ist das Drehbuch trotz mehrerer Auszeichnungen und witziger Dialoge gar nicht so entscheidend, vielmehr lebt der Film von der Magie dieses Orts, von Sofia Coppolas eigenen Erfahrungen in Tokio und ihrem Gespür für Atmosphäre und Musik (die sie sehr zur Idee des Films inspirierte). Von den spontanen Einfällen beim Dreh und der einzigartigen Chemie zwischen Scarlett Johansson, die zwingend für den Oscar hätte nominiert werden müssen, und Bill Murray, der ihn damals leider nicht gewann.

Doch irgendwie gehört dieses knapp Verpasste hier dazu. Denn so sehr man hofft, dass die beiden sich irgendwann wiedersehen: Wären Charlotte und Bob außerhalb von Tokio überhaupt denkbar? Würden sie den Alltag als Paar überstehen? Vermutlich nicht. Aber darum geht es nicht, sondern um den Zauber einiger weniger Tage, hier für immer auf Zelluloid gebannt.

Ich bin jetzt fast doppelt so alt wie bei meinem Kinobesuch 2004, und noch mal Lost in Translation gesehen zu haben, gab mir so viel Hoffnung wie in diesen Zeiten schon lange nichts mehr, weil ich wieder fühlen konnte, wie ich damals fühlte.

Vor ein paar Jahren war ich für mich überraschend doch noch in Japan, trotz meiner Flugangst. Mit der Transsibirischen Eisenbahn war ich von Moskau nach Peking gefahren, von dort mit Zügen weiter nach Shanghai, dann mit dem Schiff zwei Tage nach Osaka – bis ich kurz darauf endlich an derselben Hotelbar stand wie einst Murray und Johansson im Film. Ich blickte auf das nächtliche Tokio hinab, ungläubig, sehnsüchtig, ein bisschen über mich selbst den Kopf schüttelnd … –

Dann machte ich Platz für die nächsten Touristen aus der Schlange, die alle ebenfalls wegen des Films hierhergekommen waren.


Nachtrag: Wer noch etwas in der Musik schwelgen möchte: hier eine Playlist mit dem Soundtrack des Films sowie Songs, die dazu passen könnten.