Mein Herz so rot – wieso ich (fast) kein Fußballfan mehr bin

Dieser Text erschien zum Start der Bundesliga-Saison 2019/20.

„Ich verliebte mich in den Fußball, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an den Schmerz und die Zerrissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sein würden.“ Mit diesem Zitat beginnt Nick Hornby sein berühmtes Buch Fever Pitch, und in seiner Bibel über das Fansein wird eines klar: man kann sich seinen Verein nicht aussuchen, der Verein wird einem gegeben.

Selbst bei Bayern München ist das so.

Bei mir ging es in der Saison 1994/95 los – und das, obwohl ich damals eigentlich Dortmundfan werden wollte. Doch eine Niederlage gegen Freiburg und die Intervention meines damaligen Zimmernachbarn im Internat machten mich überraschend zum glühenden Bayernanhänger. Immerhin war ich ja auch in München Schwabing geboren, Wiege der Roten, während die Blauen, die verfeindeten Sechziger, aus Giesing kamen. Mit ersten Panini-Sammelbildchen, absurdem Nichtwissen („Lothar Matthäus spielt ja bei uns?!“) und grenzenlosem Enthusiasmus brach ich auf in mein Fanleben.

Parallel dazu meldete ich mich in einem Verein an und stürmte und stolperte fortan durch bayerische Strafräume. Schlief ganze Nächte mit meinen ersten Fußballschuhen an (Copa Mundial), weil ich in der Bravo Sport las, das ein Lieblingsspieler das auch getan hatte. War im Sommer täglich auf dem Platz: Mal mit Freunden, mal allein, meine Fantasiespiele und Schüsse dann selbst kommentierend (und dabei oft einen Rückstand aufholend). An Wintertagen schloss ich mich im Keller des Heims ein, trug mein Darius-Wosz-Trikot und übte stundenlang beim „Danteln“ den Ball hochzuhalten, ohne dass er den Boden berührte; von ärgerlichen zwei- oder fünfmal bis zu wackligen zwanzigmal – und schließlich dem magischen Tag, als ich hundertzwölf Berührungen schaffte und vor Freude aufschrie. Danach zur Belohnung ein Spezi.

Heute ist mir klar, dass der runde Ball noch mehr für mich tat. Er stiftete in schwierigen Phasen Geborgenheit und Halt, als ich noch gar nicht wusste, dass mir das fehlte. »Fußballer, erinnerst du dich noch, als du geträumt hast? Du warst zwölf Jahre alt, und dir gingen Dribblings, Tore und Beifall durch den schwärmerischen Kopf«, schrieb einst der argentinische Spieler und Fußballphilosoph Jorge Valdano – und auf mich traf jedes Wort zu. Wie viele sensationelle Treffer schoss ich im Geiste, während es daheim Probleme gab, wie viele Gegner tanzte ich kunstvoll im Matheunterricht aus, als vor mir eine schlechte Arbeit lag, wie viele Verträge bei Traumclubs unterzeichnete ich nachts im Internat, wenn ich im Bett lag und nicht einschlafen konnte.

Ein Highlight war es, wenn ich in den Ferien zu Hause war und mir vom Geburtstagsgeld oder dem Ersparten ein Ticket fürs Bayernspiel kaufte (oft am Kiosk Münchner Freiheit, Preis: rund zwanzig D-Mark). Das ging auch spontan am Spieltag selbst, denn das Olympiastadion war damals fast nur in den Derbys gegen Sechzig ausverkauft und bot sonst immer Platz. Dann der Weg mit den anderen rotgekleideten Fans von der U-Bahn zum Stadion, dessen Flutlicht man schon aus der Ferne leuchten sah und dessen Dachkonstruktion man bewunderte, während die Gesänge und das Getrommel der Anhänger mit jedem Schritt lauter wurden …

Das alles ist jetzt fünfundzwanzig Jahre her, und in dieser Zeit habe ich des Öfteren damit gehadert, keinen Underdog zu unterstützen, der auch mal gegen den Abstieg kämpft und jedes Jahr aufs Neue einer unberechenbaren Saison entgegensieht – sondern einen Rekordmeister mit dem depperten Slogan „Mia san mia“, der den Erfolg zumindest halbwegs planen kann. Aber dein Verein ist nun mal dein Verein, und so habe ich ihn in diesen fünfundzwanzig Jahren immer leidenschaftlich verteidigt. Habe mitgefiebert, mitgelitten, jeden Montag und Donnerstag den kicker (und später auch 11 Freunde) gelesen und die ganze Woche schon an die Spiele am Wochenende gedacht. Samstag, 15 Uhr 30, das war meine Messe.

Nur, was macht man, wenn diese einstige Leidenschaft abgekühlt ist und man sich im Laufe der Jahre auseinandergelebt hat?

Ein Bild vom Herbst 2009, aus glücklichen Tagen in der Autorennationalmannschaft: Nach einem Tor gegen die Türkei im Millerntorstadion – unser Trainer war damals die leider kurz darauf verstorbene Legende Jörg Berger. Ich war schon ausgewechselt, wollte unbedingt noch mal rein, da sagte er „Okay, Junge, aber dann musst du auch treffen“ … Aufgrund von Knie-OPs und verschiedenen Verletzungen habe ich inzwischen schweren Herzens aufgehört. (Foto: Getty Images)

Meine Fanliebe hat zuletzt stark gelitten. Ein Teil wurde mit sieben Meisterschaften in Folge schlicht zu Tode gesiegt, der große Rest fiel der Kommerzialisierung zum Opfer – nicht zuletzt dem Ärmelsponsor Quatar Airways und dem Pakt mit einem Staat, der sich kaum um Menschenrechte schert und Vereine wie Bayern München dazu benutzt, sich weißzuwaschen. Hinzu kam ein oft selbstgerechter, manchmal weltfremd wirkender Umgang der Bosse mit Kritik, bis ich bei der beschämenden Pressekonferenz letztes Jahr nur noch eines spürte: Entfremdung.

Denn dass mein Verein bei aller Angriffsfläche, Erfolgen und feiner Arroganz-Glasur immer auch eine soziale Ader hatte, sich etwa in Person von Hoeneß um strauchelnde Ex-Spieler und in Not geratene Vereine kümmerte, hatte mich genauso an ihn gebunden, wie dass er zumindest früher familiär und nahbar wirkte und für bestimmte Werte eintrat. Zuletzt aber ging viel davon verloren, waren es fast nur noch die Ultras der Schickeria, die diese Werte sichtbar hochhielten (mit Aktionen gegen durchkommerzialisierte Vereinspolitik, Rassismus und Homophobie – und gleichzeitig für soziale Belange, kritische Fankultur und das Gedenken an die jüdischen Wurzeln und Kurt Landauer).

Allerdings steht auch Bayern nur für die generelle Entwicklung des Fußball hin zu einem profitmaximierten Produkt. Bei der WM 1994 in den USA war ich zehn und schaute nachts fasziniert die Spiele, doch das damals ausgebrochene Fußballfieber ist abgeklungen. Sei es durch überflüssige Wettbewerbe wie die Nations-League, verwässerte Turniere, immer mehr Streaminganbieter oder die offensichtlich hinter den Kulissen vorangetriebenen Pläne für eine Super League der reichsten Vereine. Durch all die Blatters, Infantinos und korrupten Leute im Hintergrund, die das Spiel mit ihren Deals zerstören, und die fassungslos machenden Enthüllungen auf Football Leaks.

Und nicht zuletzt durch eine WM in Katar an Weihnachten, die so zweifellos nur durch Bestechung zustande kam und in einem Land stattfindet, in dem sich homosexuelle oder jüdische Fans nur bedingt sicher fühlen dürfen und die Rechte von Frauen beschränkt sind. Ein Land, das für dieses und andere Projekte den Tod von mutmaßlich hunderten bis tausenden Gastarbeitern verschuldete bzw. in Kauf nahm, während die Fußballwelt nichts dagegen unternahm, als würde sie dem Bau der Pyramiden zusehen. Und nun soll in diesen Stadien gejubelt werden? Ernsthaft?

Dass ein Umsatzgigant wie mein Verein die Entwicklungen des modernen Fußballs mitmacht, weil er weiter um die größten Titel spielen möchte, ist legitim. Aber ebenso legitim ist es, wenn das nicht jedem gefällt, so naiv und nostalgisch das in der heutigen Zeit auch wirken mag. Vor allem, weil Bayern eben kein Verein ist, der gegen den Wandel ankämpft, sondern oft wie ein Symptom davon wirkt. Und das nicht nur, weil er alljährlich wegen der „hervorragenden Bedingungen“ sein Trainingslager in Katar aufschlägt – und nun eben auch noch Geschäftsbeziehungen mit diesem Staat einging.

Nach der oben erwähnten Pressekonferenz war ich enttäuscht, denn in Zeiten des zunehmenden Rechtspopulismus hätte ich mir ein anderes Signal gewünscht, etwa eines für Vielfalt und Toleranz. Ich schrieb damals einen längeren Brief an den Verein, auf den es keine Antwort gab, ebenso erging es Freunden mit ihrem Fanclub – was bei der Flut von Schreiben jedoch total verständlich ist. Viel schmerzhafter war aber, dass es auch öffentlich keine zufriedenstellende Reaktion oder auch nur Einsicht meines Clubs gab. Gegenmeinungen wurden kaum ernstgenommen, substanzielle Kritik auf der Hauptversammlung tat man als Störfeuer von außen ab. Und so trat ich schließlich aus. Offiziell als zahlendes Mitglied beim FC Bayern, aber wenn ich ehrlich bin, vor allem aus dem modernen Fußball als Ganzes.

Beim Pokalfinale 2018 sah ich, wie sehr die Frankfurtfans über den unerwarteten Sieg gegen Bayern jubelten. War es nicht schön, wie spannend früher auch die Bundesliga war, als man finanziell noch eng beisammen lag? Wer kann sich nach einer möglicherweise 8. oder 10. Meisterschaft in Serie noch wirklich freuen?

Und nun?

Natürlich schaut man der alten Liebe noch immer mit speziellem Interesse hinterher. Manchmal sogar mit alter Zuneigung, Beziehungsstatus: kompliziert. Gleichzeitig beginnt man trotzig, sich nach anderen Clubs umzusehen, flirtet mit Klopps Liverpool und feuert die Eintracht in Europa an, aber man spürt: es wird nie wieder dasselbe sein. Nie wieder kann ich als Fan eines anderen Vereins so mitfiebern wie einst als Kind, als ich nach einem harmlosen 1:2 in der Saison 1995/96 gegen den HSV nachts im Skilager heulte und nach dem Meisterschafts-entscheidenden Tor von Rizzitelli im Jahr darauf gegen Stuttgart wie verrückt durchs Zimmer hüpfte. Und auch danach wechselten sich Tränen und Glücksräusche stetig ab.

Wobei es gerade die Momente des Scheiterns waren, in denen ich mich dem Verein am nächsten fühlte. Ob die „Mutter aller Niederlagen“ 1999 gegen Man United oder das verlorene Endspiel „dahoam“ gegen Chelsea. Letzteres sah ich mit sechzigtausend Fans im ausverkauften Münchner Olympiastadion beim Public Viewing (während das echte Spiel „nebenan“ in der neuen Allianz Arena stattfand), und nie werde ich vergessen, wie wir nach dem verlorenen Elfmeterschießen schweigend durch den nächtlichen Olympiapark nach Hause gingen; ein Trauermarsch in rot und weiß.

Nach solchen Rückschlägen wirkte die sonst so selbstbewusste bayerische Fassade rissig, war nichts mehr von der ausgestellten Dominanz zu spüren. Auf einmal wirkte mein Verein verletzlich, menschlich. Ein alter Kumpel an der Bar, der eine Umarmung brauchte und mit jedem Frustbier sympathischer wurde. Ich habe nach diesen Spielen geheult und noch wochenlang gelitten – aber nie war ich lieber Fan.

Was also bleibt, sind Erinnerungen an solche Tore und Niederlagen, an Spieler, erhitzte Diskussionen mit Freunden, Begegnungen und Stadionerlebnisse … mit keinem anderen Verein ist so etwas noch mal möglich, werde ich die Kader und Ergebnisse früherer Jahre so mühelos auswendig können oder auf einstige Lieblingsspieler wie Lizerazu, Scholl und Deisler zurückblicken, deren Trikots man als Kind und Jugendlicher stolz trug. Allein schon deshalb wird es nie mehr dasselbe sein – so wie auch der unperfekte, greifbare Fußball, in den ich mich in meiner Kindheit wie einst Hornby verliebte, nicht mehr derselbe ist.

Auf dem Höhepunkt der Fanliebe, als mich selbst einfache Bundesliganiederlagen ins Tal der Tränen trieben – und ich tagelang in Bayerntrikots herumlief. (Womit ich auf der Coolness-Tabelle tief im Abstiegskampf steckte, während mein Verein unbeirrt um Meisterschaften kämpfte).

Aber man kann andere Vereine ja einfach gut finden. Etwa den SC Freiburg unter Christian Streich, der sich immer wieder auch politisch positioniert – und somit eine inspirierende Stimme geworden ist, ob gegen rechten Populismus oder die Kommerzialisierung des Fußballs. Und genauso gibt es den 1. FC Union Berlin, der heute sein Debüt in der Bundesliga gibt.

Im Rahmen der Anthologie Alles auf Rot besuchte ich ein Spiel der Berliner und schrieb einen Text darüber, aber schon davor hatte der Verein mein Interesse geweckt. Weil er weder „besonders“ noch „kultig“ sein will, aber trotzdem vieles anders macht. Weil er bei allen Stärken und Schwächen, die jeder Verein hat, dann doch persönlicher wirkt als andere Clubs. Weil die Fans das enge, heimelige Stadion im Wald selbst mitgebaut haben, in der Halbzeit verstorbener Mitglieder gedacht wird, keine Torjingles laufen, keine Ecken von irgendeinem Sponsor präsentiert werden und die Musik meist gut ist. Weil überhaupt die Anhänger ihre Mannschaft bedingungslos anfeuern und unterstützen, auch wenn sie chancenlos verliert, und das ganze Spiel über singen. Am Ende gehen die Spieler deshalb nicht in eine Kurve, sondern in alle, und diesen Zusammenhalt empfand ich als berührend.

Und so gilt meine Sympathie in dieser Bundesliga-Saison nicht meiner einstigen Liebe, sondern Vereinen wie den Berlinern oder Freiburg. Ich hoffe, sie bleiben beide drin, aber noch mehr hoffe ich: sie bleiben so, wie sie sind. Das ist kitschige Fußballromantik, ich weiß.

Und wie sehr habe ich die vermisst.

P.S. Fußballfans sind, ähm, oft widersprüchlich. So konnte ich im Corona-Lockdown dann doch nicht der Versuchung widerstehen, aus Langeweile eine Top 10 der besten Fußballer zu erstellen.